Gehetzt - Thriller
absitzen würde. Sie hatte sich diesem Gedanken schlichtweg verweigert. Doch als sie erst einmal drinnen gewesen war, nach etwa sechs Monaten
oder so, als der anfängliche Schock nachgelassen hatte und das Leben hinter Gittern, wenn auch nicht völlig akzeptabel so doch zumindest auszuhalten gewesen war, waren ihre Fluchtgedanken in den Hintergrund getreten, soweit ein Gefangener sich diese Gedanken überhaupt je ganz aus dem Kopf schlagen kann. Aber zumindest hatten sie keine Priorität mehr gehabt. Stattdessen hatte sie sich in die Arbeit gestürzt, anderen Gefangenen zu helfen. So viele von ihnen hatten noch viel we niger als sie. Sie war weiß, gebildet und entstammte der oberen Mittelschicht, was bedeutete, dass ihr gewisse Türen offenstanden. Sie er innerte sich an den Moment, in dem ihr bewusst geworden war, wie vergleichs weise gut sie es hatte. Sie war am Telefon vorbeigegangen, vor dem eine Schlange überwiegend schwarzer Frauen angestanden hatte, um auf ihr dreiminütiges Telefonat zu warten, und hatte eine junge Frau sagen hören: »Oh, weißt du, eigentlich ist es ganz nett hier, drei Mahlzeiten täglich und ein warmes Bett, und niemand, der mich schlägt, ich kann mich nicht be klagen …«
Diane nahm eine Hand vom Lenkrad; die Bewegung riss Gail aus ihren Gedanken. Vor ihnen fuhr ein Kombi mit einem Kennzeichen aus Indiana; auf der Rückbank drückten sich Kinder die Nasen an der Rückscheibe platt und winkten überschwänglich. Diane winkte zurück, und die Kinder winkten weiter und sahen Gail an, und sie winkte ebenfalls, und dann verschwanden die Köpfe der Kinder, gefolgt von den Händen.
»Eigentlich sollten sie angeschnallt sein«, sagte Diane. Ihre Stimme klang wie automatisch abgespult.
»Bist du müde? Ich kann weiterfahren, wenn es wirklich sein muss.«
»Ein bisschen kann ich noch.« Nicht dass Diane nicht den ganzen Tag am Steuer sitzen konnte. Das hatte sie als Streifenpolizistin immer gemusst. Acht Stunden hinterm Lenkrad, meistens pure Langeweile, die gelegentlich durch vorwiegend
banale Funksprüche unterbrochen wurde, und ab und zu ein bisschen Aufregung. Efird hatte gesagt, dass es bei der Kripo auch nicht viel besser sei. Aber zumindest tat einem da nicht vom stundenlangen Sitzen im Streifenwagen der Rücken weh, und man musste keine Zwanzig-Kilo-Ausrüstung an seinem Gürtel mit sich herumschleppen.
»Es muss ja nicht Oklahoma sein«, sagte Gail. »Du kannst überall hingehen.«
»Ich weiß.« Was Diane nicht wusste, war, wie sie sich fühlen würde, wenn sie Gail zurückließe. Gail hatte keine Freunde oder Familienangehörige, zu de nen sie dauerhaft zurückkehren konnte. Sie konnte nicht nach Hause gehen. Keine von ihnen beiden konnte das. Aber Diane hatte es in gewisser Weise besser als Gail. Wenn es ihr ge länge, ih ren Namen reinzuwaschen, konnte sie zurückgehen. Die Leute würden sie wieder respektieren, vielleicht sogar mehr als vor dem ganzen Schlamassel. Bei Gail war das anders. Gail hatte kein Zuhause, in das sie zurückkehren konnte. Ihre einzigen Freunde waren entweder Gefangene, Exhäftlinge oder Leute, die sie von früher aus der Bewegung kannte. Und sich in deren Umfeld niederzulassen, konnte sie nicht riskieren.
»Diese Leute, zu denen wir fahren«, begann Diane, »sind sie …?« Sie ließ die Frage in der Luft hängen.
»Alte Freunde«, erwiderte Gail und seufzte. »Ich habe sie kennengelernt, als ich in Oklahoma aufs College gegangen bin. Sie kamen auch aus dem Osten und gehörten ebenfalls zur Bewegung, aber nach dem Banküberfall sind sie ausgestiegen. Für viele war da Schluss. Die meisten von uns wollten mit etwas so Gewalttätigem nichts zu tun haben. Die Freunde, zu denen wir fahren, haben in Kalifornien noch ein Aufbaustudium ge macht und sind dann hier her zurückgekommen. Ich glaube nicht, dass sie heute noch auf irgendwelchen Listen stehen.«
»Da sei dir da mal nicht so sicher.«
»Ich habe nicht ge sagt, dass ich sicher bin. Aber ich glaube, sie sind im Moment eine gute Anlaufadresse für uns. Wir können uns sammeln und ein paar Entscheidungen treffen.«
»Sie haben doch nicht etwa … du weißt schon, Oklahoma City, der Anschlag?«
»Nein! Um Himmels willen, Diane! Wie kannst du das auch nur in Erwägung ziehen?«
»Hab’ ich ja nicht wirklich. Aber immerhin wechseln sogar Senatoren manchmal die Partei.«
»Wir waren keine politische Partei.«
»Was wart ihr dann?«
»Ein Haufen Kids, die die Welt verändern wollten.«
»Und
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