Gehetzt - Thriller
schweigend da und wartete, um sicher zu sein, dass keine Polizisten hinter Gail herstürzten. Sie war bereit, in die Dunkelheit zu fliehen, falls sie das Klappern irgendwelcher Ausrüstung an einem Koppel oder die statischen Geräusche eines Funkgeräts hörte. Sie war mit jeder Faser ihres Körpers in Alarmbereitschaft, sodass ihre Erschöpfung sich in nichts auflöste und versiegte wie der Schweiß, der erst vor ein paar Minuten aufgehört hatte, von ihrem Körper zu tropfen.
»Diane? Bitte!«
Diane stand auf und hörte, dass Gail die Luft anhielt. Und dann sagte Gail in bei nahe sachlichem Ton, mit beinahe lachender Stimme, als ob sie nicht recht wüss te, welche Haltung angemessen war, ob die Si tuation tragisch war oder urkomisch: »Du gehst mir allmählich wirklich auf den Geist.«
»Komm rein«, erwiderte Di ane. »Mein Grab ist auch dein Grab.«
Sie hörte Gails unterdrücktes Lachen und ihre sich nähernden Schritte. Und dann legten sich Gails Arme um sie, die sich genauso verschwitzt und dreckverkrustet anfühlten wie ihre eigenen, und sie legten einander die Köpfe auf die Schultern und wiegten sich hin und her, ganz langsam, hielten einander fest und gaben sich gegenseitig Kraft, wäh rend sie sich weiter hin- und herwiegten.
»Tom«, sagte Gail schließlich. »Der Schweinwerfer. Der Hubschrauber. Sie waren im Begriff, mich zu schnappen. Er hat sie von mir abgelenkt. Er hat sie weggelockt.«
»Ich hab’s gesehen«, entgegnete Diane.
»Er hat geschrien ›Lauf‹, also bin ich gelaufen. Ich bin gerannt wie eine Wahnsinnige, und dann habe ich dich am Flussufer hochkommen sehen, aber bis dahin konnte ich es nicht schaffen. Also habe ich mich hinter ein paar Bü schen versteckt, bis sie abgezogen sind. Ich fürchte, sie haben ihn geschnappt, sonst hätten sie sicher weitergesucht. Er hat ihnen bestimmt irgendwas erzählt. Hat ihnen irgendeine Geschichte aufgetischt. Er hat sie uns vom Hals geschafft.«
Diane spürte etwas Warmes auf ihrer Wange und Tropfen auf ihrer Schulter, und sie zog Gail noch fester zu sich heran und ließ sie sich ausweinen.
Zimmer 329 im Harvey Hotel roch nahezu genauso wie Zimmer Nummer weiß der Teufel, das sie im Holiday Inn in Chicago
gehabt hatten. Und das jetzt bestimmt gerade von den Marshals auf den Kopf gestellt wurde. Oder vielleicht waren sie auch schon fertig. Gail holte tief Luft: der Ge ruch von extrastarkem Industrieteppichschaum und irgendeinem Ajax-Imitat, außerdem Polyesterbettwäsche und gekühlte Luft. Die Klimaanlage summte von ih rem Platz unter dem Fenster, wo sie mit Bedacht so angebracht war, dass sie den Blick nicht versperrte.
Ihre Kleidung war vom Waschen in der Badewanne und Trocknen über der Stange des Duschvorhangs ganz steif. Ihre Koffer waren mit Sicherheit irgendwo in einer Asservatenkammer oder wurden von U.S. Marshals akribisch auf Spuren untersucht. Sie würden in ihnen nichts als Kleidung finden.
Gail stellte sich rechts neben die Klimaanlage, um der eisigen Luft auszuweichen, die durch das Gebläse oben in dem Gerät gepustet wurde, und starrte aus dem Spiegelglasfenster, von dem aus man vor allem den in beide Richtungen endlosen Verkehr auf der Interstate 75 überblickte. So weit das Auge reichte Hotels, Einkaufsstraßen, Tankstellen. Alles sah neu aus, als ob es erst in den vergangenen Monaten hochgezogen worden wäre. Das einzige Anzeichen von Abnutzung wiesen die Asphaltdecken der Parkplätze auf, deren ursprüngliches Schwarz von der in Texas gnadenlos sengenden Sonne zu einem Grauschwarz verblichen war. Ein Konsumentenparadies. Deprimierend. Sie sah Autos auf die Park plätze biegen und Fahrer aussteigen, einige führten kleine, herumspringende Kinder über den Highway zu dem großen Spielzeug-Kaufhaus. Gail hatte es im mer dem Ge fängnisfraß zugeschrieben, dass im Knast so viele Frauen fett wurden, wenngleich viele auch schon bei ihrer Einlieferung einiges auf den Rippen hatten. Doch sie sah auch jetzt nicht viele schlanke Menschen auf McDonald’s oder Burger King zusteuern, die praktischerweise direkt nebeneinanderlagen, oder auf das daneben befindliche
Sizzler. Von den Herauskommenden redeten einige, die zu ihren Autos watschelten, in ihre Handys. Das Land war voller geworden, während sie eingesperrt gewesen war. Es gab mehr Autos, mehr Geschäfte, mehr Fast-Food-Restaurants, mehr Menschen. Und die Menschen waren, wie es schien, schwerer geworden. Wie über haupt das gan ze Land vollgesogen und träge geworden war.
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