Gehetzt - Thriller
Gefängniskleiderausgabe entstammte, nicht einmal eine Uhr. Nur eine Khakihose und ein Top. Darunter ein weißes
T-Shirt. Arbeitsstiefel. Selbst ihre Socken waren Gefängnissocken. Sie fügte sich den Regeln. Ihre dunklen Locken waren zu einem straff am Kopf sitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden, der von einem einfachen Gummiband zusammengehalten wurde. Sie trug kein Make-up. Ihre grünen Augen waren klar und aufmerksam; sie versuchte, freundlich zu blicken.
Tür an Tür, und dann eine Tür, vor der eine schlichte Holzbank stand. Der Aufseher deutete auf die Bank. Gail setzte sich. Der Aufseher drehte sich um und ging über den Korridor davon. Rassel, rassel, rassel. Das Geräusch verebbte.
Gail blätterte den Ordner durch, den sie in der Hand hielt. Von irgendwo hörte sie ein fernes Seufzen und wurde sich bewusst, dass es ihr eigenes war.
Die Tür ging auf. Ein Häftling erschien und ging schnellen Schrittes davon. Gail warf einen Blick zur Tür und wandte sich schnell wieder ihrem Ordner zu. Worte schwirrten in ihrem Kopf herum, Sätze. Gedankenfetzen der vergangenen achtzehn Jahre schossen zwischen ihren Schädelwänden hin und her: Fetzen von Bedauern, Fetzen von Wut, Fetzen von Verzweiflung. Ihr Backenzahn tat wieder weh. Derjenige, von dem der Gefängniszahnarzt ihr hatte weismachen wollen, dass er in Ordnung war. Ein anderer Gefängniszahnarzt, der Vorgänger des jetzigen, hatte 1993 eine Wurzelbehandlung bei ihr durchgeführt und den Zahn gefüllt. Aber der Zahn war nie in Ordnung gewesen. Keine der Zahnbehandlungen hatte je irgendetwas gebracht. Die Tür ging wieder auf. Gail verharrte reglos, sie hatte Angst hinüberzusehen. Der Mann in der Tür, der Prüfer, starrte auf die Aktenmappe in seiner Hand.
»Ms. Rubin.« Er sah Gail ohne jede Spur von Böswilligkeit in die Augen. »Chuck Rocco. Treten Sie bitte ein.«
Sie erhob sich, folgte ihm in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Der Raum wirkte klinisch steril. Rechteckig. An der hinteren Seite Fenster, davor grüne Vorhänge. Ein Aktenschrank. In der Mitte des Raums ein Tisch mit Resopalplatte. Auf der einen Seite des Tisches drei Stahlstühle, spärlich mit mattorangefarbenem Kunstleder bezogen, auf denen die drei Bewährungsprüfer saßen. Auf der anderen Seite des Tisches ein identischer Stuhl, auf dem Mr. Rocco ihr Platz zu nehmen bedeutete.
Sie löste sich von der Tür und steuerte den Stuhl an. Gott, war das kalt hier drinnen. Gail setzte sich. Ob sie sehen konnten, dass ihr Herz versuchte, aus ihrem Brustkorb zu springen? Gail lächelte sie höflich an und platzierte ihren Ordner sorgfältig vor sich auf dem Tisch. Sie hatten stapelweise Ordner. Sie hatten hundert Ordner mehr als sie. Sie wusste nicht einmal genau, warum sie überhaupt einen Ordner mitgebracht hatte. Vielleicht, um sich an irgendetwas festhalten zu können, während sie wartete.
Gail kannte die drei allesamt von ihrer letzten Anhörung. Neben Mr. Rocco saß Mr. White, der Leithammel, immer noch blasshäutig und rotnasig, mit einem furchtbaren Haarschnitt, aber freundlichen Augen. Er hatte sich in den vier Jahren kaum verändert. Die Frau neben ihm lächelte sie an.
»Ich bin Lorraine Gray«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen, Miss Rubin?«
Gail hörte sich sagen Die Zeit verfliegt nur so, wenn man Spaß hat und wollte gerade nach Luft schnap pen, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie es nur in ihrem Kopf gesagt hatte. Sie nickte Ms. Gray höflich zu und fragte sich, welche Veränderungen sich wohl in den vergangenen vier Jahren bei den Bewährungsprüfern ereignet hatten. Wie die Zeit ihnen mitgespielt hat te und wie schnell oder langsam sie ihnen vergangen war. Sie erinnerten sich offenbar an sie. Oder vielleicht
hatten sie auch nur ihre Ordner konsultiert und genug zusammengetragen, um so tun zu können, als erinnerten sie sich an sie.
Mr. Rocco schaltete ein Tonbandgerät ein.
»Gail Roselynn Rubin«, begann Mr. White. »Geboren am 16.3.1960. Häftlingsnummer 09046-086. Wir befinden uns heute in der Bundesjustizvollzugsanstalt Sundown, New York, zur Anhörung des Antrags auf Haftentlassung auf Bewährung in der Sache Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Gail Roselynn …«
Seine Worte glitten an ihr vorbei, sie war unfähig, ihnen zu folgen. Sie sah, wie sich sein Mund bewegte, und wusste im Großen und Ganzen, wovon er redete, doch es war, als ob sich ein Nebel zwischen sie gelegt hätte, der jedes Geräusch verschluckte. Sie konnte ihn nicht hören.
Weitere Kostenlose Bücher