Gehetzt - Thriller
entlassen. Sie haben seine Argumente gehört. Für den Besitz von Sprengstoff und Waf fen mögen Sie aus reichend bezahlt haben, aber beim Überfall auf die Bank von Philadelphia waren drei Tote zu beklagen und der Verlust von zwei Millionen Dollar. Diese Schuld ist noch lange nicht gesühnt.«
»Aber ich war nicht dabei!« Gail stand auf und beugte sich zu ihnen vor. »Ich habe es nicht getan! Ich bin dafür nicht vor Gericht gestellt worden, ich bin dafür nicht verurteilt worden, und wenn man mir den Prozess gemacht hätte, wäre ich freigesprochen worden. Das ist nicht fair!«
»Ich denke kaum, dass Sie beurteilen können, ob Sie für schuldig befunden worden wären oder nicht. Aber wie auch immer, Sie haben gehört, was der Staatsanwalt verlangt.«
Was der Staatsanwalt verlangt! Sie hätte Mel mitbringen sollen. Aber sie waren übereingekommen, dass die Anhörung sicher aufgelockerter verlaufen würde, wenn er fernblieb. Gail wusste, was sie zu sagen hatte. Ja, super. Nur dass es überhaupt keine Rolle spielte, was sie zu sa gen hatte. Die Entscheidung war bereits gefallen, bevor sie sich überhaupt ihnen gegenüber hingesetzt hatte.
Gail konnte keinen Boden unter sich spüren. Die Wände bewegten sich. Sie kamen langsam auf sie zu. Die drei Prüfer saßen da und starrten sie mit einem Ausdruck gleichgültiger Ignoranz an, dass sie ihnen am liebsten eine reingehauen hätte.
Sie wollte etwas tun, irgendetwas, um sie aus ihren Stühlen und ihrer Selbstgefälligkeit zu reißen. Sie wollte alles zerstören: den Tisch, die Stühle, die bescheuerten, nutzlosen Ordner, die Wände, die Tür, das ganze verdammenswerte Gefängnis. Es Stein für Stein auseinandernehmen, mit bloßen Händen. Ob sie das in zwölf Jahren schaffen würde?
Gail setzte sich wieder und sank in sich, in die Dunkelheit ihres Inneren, wo sie Zuflucht vor ihrer bloßen Existenz suchte. Sie war nicht mehr. Dieser Ort war nicht real. Nichts von alldem passierte wirklich. Es gab keine Hölle. Es gab keinen Himmel. Sie war nichts weiter als eine Ansammlung von Teilchen, die willkürlich in die Umlaufbahn anderer Teilchen gefallen war; sie war nichts weiter als eine Abfolge chemischer Reaktionen, was nichts weiter bedeutete als die Ermöglichung wei terer chemischer Reaktionen. Leben war etwas, das andere Menschen betraf. Da draußen, in der realen Welt.
Die drei ihr gegenüber starrten sie verständnislos an. Mr. Rocco nahm den Brief des Staatsanwalts und legte ihn zurück in seinen Ordner. Dann legte er den Ordner zurück auf den Stapel neben sich. All diese harte Arbeit des Kategorisierens, Sortierens und Zusammenfassens dessen, wozu Menschen im positiven und negativen Sinne fähig waren. Alle drei Prüfer saßen da, starrten Gail mit zusammengepressten Lippen an, und dann wurde sie aus der Tür geführt.
Sie ging den Gang entlang. Ihre Knie waren ganz weich von der Anstrengung, ih ren Körper vorwärtszutragen. Doch sie ging weiter. Zur Hölle mit ihnen allen. Sie hatte achtzehn Jahre hinter sich. Das konnten sie doch nicht tun. Das konnten sie doch unmöglich tun!
Noch zwölf Jahre. Zwölf. Wenn sie das nächste Mal vor sie treten würde, wäre sie sechsundfünfzig Jahre alt. Sechsundfünfzig. Die Zahlen hämmerten auf sie ein. Achtzehn Jahre eingesperrt. Zwölf noch vor sich. Frei mit sechsundfünfzig.
Irgendwie schaffte sie es zu ihrer Zelle. Die Tür war verschlossen. Sie umfasste die Gitterstäbe und rüttelte mit aller Kraft an ihnen. Nichts. Sie rüttelte erneut. Sie dachte, sie würde lachen, doch dann spürte sie die Nässe auf ihren Wangen und wurde sich bewusst, dass sie weinte.
Ausgesperrt. Sie war aus ihrer Zelle ausgesperrt.
KAPITEL 5
Das Chase war eine Kneipe an einer Vorstadt-Einkaufsstraße. Alles war aus Adobe-Ziegeln und im Südweststil gehalten, das außen angebrachte Schild war ein braunes, ansprechend von hinten angestrahltes Kunststoffschild, um die Kunden des Dunkin’ Donuts (zur Linken) und des Taco Bells (zur Rechten) anzulocken. Drinnen war es schummrig und klimatisiert, Aschenbecher standen auf den Stehtischen, an de nen man vorbei musste, um in den Be reich zu ge langen, in dem man sitzen konnte. An beiden Enden einer langen furnierten Theke stand jeweils ein Fernseher. Die Frozen-Margarita-Maschine aus Edelstahl summte leise im blauen Neonschein der über ihr hängenden Leuchtreklame für Lone Star Beer. Es war fast Mitternacht, aber die Kneipe war noch gerammelt voll. Aus strategisch günstig platzierten
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