Gehetzt
Montag, dem 20. Mai, gegen 19.00 Uhr, waren die Panzer nach Abbeville hineingerollt. Noch vor der Dunkelheit hatte General Storch seinen Gefechtsstand in einem Schulgebäude im nördlichen Randbezirk der Stadt bezogen. Er achtete stets darauf, sein Feldquartier so nahe wie möglich an den Ausgangspunkt der weiteren Marschroute zu legen.
Diesmal ging der Vorstoß in Richtung Norden. Ziel waren die Seehäfen am Kanal. Der General kochte vor Wut, während er sein neues Quartier inspizierte. Und wie üblich, mußte Meyer als Blitzableiter herhalten.
»Die sind wohl verrückt geworden«, tobte der General. »Die können nicht mehr ganz bei Trost sein.«
»Die beim Oberkommando, Herr General?«
Meyer zog einige Papiere aus einer Tasche und stapelte sie auf dem Schreibtisch säuberlich auf. Als Storch jetzt erregt aufsprang, richtete er sich kerzengerade auf und knallte die Hacken zusammen. Polternd stürzte der Stuhl hinter dem General zu Boden. Meyer war im Gegensatz zu seinem Chef in bester Laune und erwartete ungerührt dessen Tiraden.
»Die diesen Befehl verzapft haben natürlich.«
Storch wedelte wütend das Blatt mit dem Funkspruch durch die Luft.
»Alle Panzerdivisionen bleiben auf ihren gegenwärtigen Positionen und warten auf weitere Befehle. Wieso warten, wenn man siegt? Den Vorteil nutzen, Meyer, das ist das Richtige. Mit den Panzern vorstoßen, solange auch nur noch ein Liter Sprit vorhanden ist. Nur so gewinnt man Kriege.«
»Ich nehme an, General Guderian hat seine Gründe.«
Die beiden Männer hatten diesmal die Rollen getauscht. Jetzt antwortete Meyer mit samtweicher Stimme, sorgsam darauf bedacht, die Genugtuung in seinen Worten zu unterdrücken.
Endlich hatte er seinen Triumph. Das Oberkommando hatte den Wahnwitz eines übereilten Vorstoßes einfach ins Blaue hinein endlich erkannt.
Doch Meyer war anscheinend nicht vorsichtig genug. Storch besaß ein feines Gehör für Untertöne und maß seinen Adjutanten jetzt mit einem langen Blick. Seine Stimme klang plötzlich gefährlich ruhig.
»Sie meinen, General Guderian macht sich Sorgen wegen der Panzer?«
Es war ein ziemlich subtiles Manöver, und Meyer merkte sofort, daß er den Boden unter den Füßen verlor. Jeder wußte, daß Guderian, der Korpskommandeur, mindestens ein ebensolcher Feuerkopf war wie Storch selbst, und Meyer zweifelte keine Sekunde, daß Guderian in diesem Moment wegen der Order von oben, die er zur Weiterleitung an seine Divisionskommandeure erhalten hatte, ebenso vor Zorn schäumte. Wenn es Storch in dieser Situation in den Sinn kam, Meyer von seinem Posten ablösen zu lassen, stünde Guderian voll hinter dieser Maßnahme – falls Meyer behauptete, der Befehl käme vom Korpskommandeur. *
»Ich meinte natürlich das Oberkommando der Wehrmacht«, sagte er darum hastig. Doch Storch schenkte ihm keine Beachtung und überflog nochmals den Funkspruch. Der zynische Zug um den Mund des Generals gefiel Meyer ganz und gar nicht. Sicher suchte Storch nach einem Weg, den Befehl in seinem Sinne auszulegen. Der General ließ die Meldung auf den Schreibtisch fallen und befahl Meyer, sie ebenfalls ein zweites Mal zu lesen. Dann fuhr er fort: »Oben weiß man anscheinend nicht, daß unsere Einheiten noch so frisch sind wie beim Überqueren der Brücken von Sedan. Verständlich, wenn man bedenkt, wie weit der Stab hinter den Linien liegt, nicht wahr, Meyer? Ich glaube, eine Rückfrage könnte da zur Klärung beitragen. Schicken Sie einen Funkspruch mit folgendem Text: Weg nach Boulogne frei. Division bereit zum Vormarsch.«
* Meyer meinte also den Kommandeur der Heeresgruppe, General von Rundstedt, der persönlich diesen Befehl erteilt hatte. Der Konflikt zwischen den zwei Lagern – den Befürwortern eines sofortigen Panzervorstoßes bis zum Kanal und den vorsichtigeren Taktierern – dauerte während des ganzen Feldzuges an.
»Bereit zum Vormarsch?« Meyer starrte Storch ungläubig an.
»Die Hälfte unserer Fahrzeuge muß dringend überholt werden, und die Männer haben seit über zehn Tagen nicht mehr richtig geschlafen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß die Hälfte unserer Panzer defekt ist?«
Meyer schluckte. Storch wußte verdammt gut, daß er es anders gemeint hatte.
»Nein, Herr General, aber es könnten unterwegs eine ganze Reihe liegenbleiben.«
»Die Panzer müssen also dringend gewartet werden?«
Jetzt war Storchs Stimme wieder sanft, kaum ein leises Murmeln. »Das meinten Sie doch, Meyer, oder?«
»Jawohl, Herr
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