Gehetzte Uhrmacher
ruhiger Stimme einige Fragen und verkündete dann, dass Reynolds die Unwahrheit sage. »Die Abmachung lautet, dass Sie uns gegenüber aufrichtig sind«, sagte sie, beugte sich vor und beäugte ihn kühl durch ihre Raubtierbrille.
»Okay, ich wollte es nur, Sie wissen schon, zusammenfassen.«
»Wir wollen keine Zusammenfassungen«, knurrte Rhyme. »Wir wollen wissen, wie zum Teufel Sie ihn kennen gelernt haben.«
Der Vergewaltiger räumte ein, es habe sich zwar tatsächlich um einen Zufall gehandelt, aber die Umstände seien nicht ganz so harmlos gewesen. Er beschrieb ihr erstes Treffen bei einem Imbiss in der Nähe seines Arbeitsplatzes. Duncan hatte einen der Männer verfolgt, die zwei Tage zuvor ermordet worden waren, und Vincent hatte es auf eine Kellnerin abgesehen gehabt.
Was für ein Duo, dachte Rhyme.
Mel Cooper blickte vom Monitor auf. »Die ersten Ergebnisse treffen ein... Wir haben hier achtundsechzig Gerald Duncans in
fünfzehn Staaten des Mittelwestens. Ich versuche es zunächst mit den offenen Haftbefehlen und VICAP, dann über das ungefähre Alter und den Beruf. Können Sie den Ort irgendwie näher eingrenzen?«
»Nein. Er hat kaum etwas von sich erzählt.«
Dance nickte. Sie glaubte ihm.
Lon Sellitto stellte die Frage, die auch Rhyme bereits auf der Zunge lag. »Wir wissen, dass er es auf ganz bestimmte Opfer abgesehen hat, die er vorher ausspäht. Warum? Was ist der Anlass?«
»Seine Frau«, sagte der Vergewaltiger.
»Er ist verheiratet?«
»Er war.«
»Raus damit.«
»Vor ein paar Jahren haben er und seine Frau eine Reise nach New York gemacht. Er war irgendwo bei einem Geschäftsessen, und seine Frau ist allein in ein Konzert gegangen. Auf dem Rückweg zum Hotel wurde sie in einer Seitenstraße von einem Auto oder Lastwagen angefahren. Der Verantwortliche hat Fahrerflucht begangen. Die Frau rief um Hilfe, aber es kam niemand; es hat nicht einmal jemand die Polizei oder Feuerwehr verständigt. Der Arzt sagte, sie habe nach dem Unfall vermutlich noch zehn oder fünfzehn Minuten gelebt. Und sogar ein Laie hätte die Blutung stoppen können, durch das Abbinden der Ader oder so ähnlich. Doch es hat ihr niemand geholfen.«
»Überprüf alle Krankenhäuser auf eine Einlieferung unter dem Namen Duncan, vor achtzehn bis sechsunddreißig Monaten«, befahl Rhyme.
»Das wird nichts nützen«, sagte Vincent. »Er ist letztes Jahr in das Krankenhaus eingebrochen und hat ihre Akte gestohlen. Den Polizeibericht auch. Indem er jemanden bestochen hat oder so. Seitdem plant er diese Morde.«
»Aber wieso ausgerechnet diese Opfer?«
»Laut den Ermittlungen der Polizei haben sich zum Todeszeitpunkt zehn Leute in der näheren Umgebung der Frau aufgehalten. Ob sie die Frau hätten retten können, weiß ich nicht. Gerald hat sich zumindest eingeredet, dass es ihnen möglich gewesen wäre. Er hat das letzte Jahr damit verbracht, sie alle aufzuspüren und ihre
Gewohnheiten auszukundschaften. Er wollte sie unbedingt allein erwischen, damit sie langsam sterben konnten. Das ist ihm besonders wichtig. Weil auch seine Frau langsam gestorben ist.«
»Der Mann auf dem Pier am Montag... ist er tot?«
»Ja, bestimmt. Duncan hat ihn sich festklammern lassen und ihm die Arme aufgeschnitten. Dann hat er einfach zugesehen, bis der Mann in den Fluss gefallen ist. Er hat gesagt, der Kerl habe noch zu schwimmen versucht, aber dann habe er sich plötzlich nicht mehr bewegt und sei unter den Pier getrieben.«
»Wie war sein Name?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Walter irgendwas. Bei den ersten beiden habe ich ihm nicht geholfen. Ehrlich.« Er warf Dance einen furchtsamen Blick zu.
»Was wissen Sie sonst noch über Duncan?«, fragte sie.
»Das ist so ziemlich alles. Das Einzige, worüber er gern geredet hat, war die Zeit.«
»Die Zeit? Worüber genau?«
»Über alles, in jeder Hinsicht. Die Geschichte der Zeit, wie Uhren funktionieren, über Kalender, wie Menschen die Zeit unterschiedlich wahrnehmen. Er hat mir zum Beispiel genau erklärt, wie Pendeluhren funktionieren und wie man durch das Verschieben des Gewichts die Uhr schneller oder langsamer laufen lassen kann. Bei jedem anderen wäre das einfach nur langweilig gewesen. Aber so wie er davon erzählt hat, na ja, wurde man regelrecht davon gefesselt.«
Cooper meldete sich erneut. »Einige der Uhrmacherverbände haben geantwortet. Ein Gerald Duncan ist dort nicht bekannt... Moment, hier kommt Interpol... Leider auch nichts. Und im VICAP bin ich ebenfalls nicht
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