Gehetzte Uhrmacher
hatte und in bequemer Haltung saß, leicht nach hinten gelehnt, mit locker hängenden Schultern, aber nicht in sich zusammengesunken. Es würde nun irgendeine Art von Geständnis folgen.
Dance ließ die Stille wirken.
»Sind Sie Therapeutin?«, fragte Lucy.
»Nein, nur eine Polizistin.«
Dennoch kam es bei ihren Verhören des Öfteren vor, dass ein Verdächtiger nach dem Eingeständnis der Tat noch weitere Enthüllungen folgen ließ, über moralische Verfehlungen, verhasste Eltern, Eifersucht unter Geschwistern, untreue Ehepartner, Wut, Freude, Hoffnungen. Er vertraute sich ihr an, suchte ihren Rat. Nein, sie war keine Therapeutin. Aber sie war eine Ermittlerin, eine Mutter und eine Kinesik-Expertin, und alle drei Rollen erforderten es, dass sie die weithin vergessene Kunst des Zuhörens beherrschte.
»Na ja, man kann sich gut mit Ihnen unterhalten. Ich dachte, ich könnte Sie wegen einer Sache vielleicht nach Ihrer Meinung fragen.«
»Nur zu«, ermutigte Dance sie.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte die Soldatin. »Ich bekomme heute diese Auszeichnung, von der ich Ihnen erzählt habe. Aber da gibt es ein Problem.« Sie berichtete ein wenig ausführlicher von ihrer Tätigkeit in Übersee, der Koordination von Treibstoff- und Nachschubtransporten.
Dance öffnete die Minibar und nahm zwei Sechs-Dollar-Flaschen Perrier heraus. Fragend hob sie eine Augenbraue.
Die Soldatin zögerte. »Ja, gern.«
Dance öffnete die Flaschen und gab eine davon Lucy. Wenn die Hände etwas zu tun haben, kann der Verstand ungehinderter denken und die Stimme besser sprechen.
»Also, da gab es diesen Corporal in meinem Team, Pete. Ein Reservist aus South Dakota. Ein witziger Kerl. Wirklich witzig. Im
Zivilleben hat er in der Baubranche gearbeitet und in seiner Freizeit eine Fußballmannschaft trainiert. Als ich da drüben anfing, war er mir eine große Hilfe. Eines Tages, vor etwa einem Monat, mussten er und ich ein Verzeichnis beschädigter Fahrzeuge anlegen. Manche von denen werden zurück nach Fort Hood verschifft und repariert, andere bekommen wir selbst wieder hin, und einige werden verschrottet.
Ich war im Büro, und er war in den Speisesaal gegangen. Um dreizehn Uhr wollte ich ihn abholen und dann gemeinsam mit ihm zu dem Stellplatz fahren. Ich kam mit meinem Humvee an und sah Petey da stehen, wie er auf mich wartete. Genau in dem Moment ging eine ISL hoch. Das ist eine Bombe.«
Dance hatte den Begriff natürlich schon gehört.
»Ich war vielleicht noch zehn oder zwölf Meter weg, als sie explodiert ist. Petey winkte mir zu, und dann war da plötzlich dieser Blitz, und alles änderte sich. Es war, als würde man blinzeln, und die Welt würde sich in einen völlig anderen Ort verwandeln.« Sie sah aus dem Fenster. »Der vordere Teil des Speisesaals war weg, und die Palmen – sie verschwanden einfach. Einige Soldaten und eine Hand voll Zivilisten, die da gestanden hatten... im einen Moment waren sie da, im nächsten weg.«
Ihre Stimme war auf unheimliche Weise ruhig. Dance kannte diesen Tonfall; sie hörte ihn oft bei Zeugen, die bei einem Verbrechen eine geliebte Person verloren hatten. (Das waren die schlimmsten aller Gespräche, schlimmer, als einem noch so niederträchtigen Killer gegenüberzusitzen.)
»Peteys Körper war zerschmettert. Anders kann ich es nicht beschreiben.« Ihre Stimme stockte. »Er war ganz rot und schwarz und verrenkt... Ich habe da drüben viel gesehen. Aber das war so schrecklich.« Sie trank einen Schluck Wasser und umklammerte die Flasche wie ein Kind eine Puppe.
Dance brachte nicht ihr Mitgefühl zum Ausdruck – das hätte nichts genützt. Sie nickte der Frau zu, sie möge fortfahren. Ein tiefer Atemzug. Lucys Finger verschränkten sich fest. In ihrer Arbeit beschrieb Dance diese weitverbreitete Geste als den Versuch, die unerträgliche Anspannung zu erwürgen, die sich aus Schuld, Schmerz oder Scham ergab.
»Die Sache ist die... Ich hatte mich verspätet. Als ich im Büro
auf die Uhr gesehen habe, war es fünf vor eins, aber ich hatte noch ein halbes Glas Limonade übrig. Ich dachte kurz daran, es auszuschütten und aufzubrechen – der Speisesaal lag ungefähr fünf Minuten entfernt -, aber ich wollte lieber austrinken. Ich wollte sitzen bleiben und in Ruhe austrinken. Daher kam ich zu spät zum Speisesaal. Wäre ich pünktlich losgefahren, wäre Petey noch am Leben. Er wäre eingestiegen, und zum Zeitpunkt der Explosion wären wir einen Kilometer entfernt
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