Gehetzte Uhrmacher
gewesen.«
»Wurden Sie verletzt?«
»Ein bisschen.« Sie zog den Ärmel hoch und zeigte ihr eine große ledrige Narbe am Unterarm. »Nichts Ernstes.« Sie starrte die Narbe an und trank dann noch einen Schluck. Ihr Blick war leer. »Wäre ich auch nur eine Minute früher da gewesen, hätte er wenigstens schon im Wagen gesessen und vermutlich überlebt. Sechzig Sekunden... Das hätte für ihn den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet. Und alles nur wegen einer Limonade. Ich wollte bloß meine verdammte Limonade austrinken.« Ein trauriges Lachen drang über ihre trockenen Lippen. »Und wer taucht dann auf und versucht, mich zu ermorden? Jemand, der sich der Uhrmacher nennt und ein Monstrum von Uhr in meinem Badezimmer hinterlässt. Wochenlang kann ich an nichts anderes denken als daran, dass eine einzige Minute auf irgendeine Weise womöglich den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet. Und dann kommt dieser Spinner und schreit es mir mitten ins Gesicht.«
»Was noch?«, fragte Dance. »Da ist noch etwas, nicht wahr?«
Ein mattes Lachen. »Ja, jetzt kommt mein Problem. Wissen Sie, meine Dienstzeit da drüben wäre eigentlich nächsten Monat zu Ende gewesen. Aber ich habe mich wegen Pete so schuldig gefühlt, dass ich meinem Vorgesetzten gesagt habe, ich würde mich für einen weiteren Turnus verpflichten.«
Dance nickte.
»Darum geht es bei dieser Zeremonie. Es ist nicht wegen der Verwundung. Wir werden jeden Tag verwundet. Es geht um die Weiterverpflichtung. Die Armee findet kaum noch neue Rekruten. Leute wie ich sollen den anderen als Vorbilder für unser neues Militär verkauft werden. Es gefällt uns so gut, dass wir zurückwollen. So was in der Art.«
»Und Sie haben Zweifel bekommen?«
Sie nickte. »Es macht mich wahnsinnig. Ich kann nicht schlafen. Ich ertrage keine körperliche Nähe. Ich bekomme nichts auf die Reihe... Ich bin einsam, ich habe Angst. Ich vermisse meine Familie. Aber ich weiß auch, dass wir da drüben eine wichtige Aufgabe erfüllen, die vielen Menschen Gutes bringt. Ich kann mich nicht entscheiden. Ich kann mich einfach nicht entscheiden.«
»Was würde passieren, wenn Sie Ihren Vorgesetzten mitteilten, Sie hätten Ihre Meinung geändert?«
»Keine Ahnung. Sie wären vermutlich stinksauer. Aber man würde mich nicht vors Kriegsgericht stellen. Es ist eher mein Problem. Ich würde andere Leute enttäuschen. Ich würde einen Rückzieher machen, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich würde ein Versprechen brechen.«
Dance überlegte kurz und trank einen Schluck. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen: Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit zu finden. Meistens habe ich dabei mit Tätern zu tun – mit Verbrechern. Die kennen die Wahrheit und lügen, um sich zu retten. Aber mir laufen auch eine Menge Leute über den Weg, die sich selbst belügen. Und für gewöhnlich ist ihnen das nicht mal bewusst.
Doch ob man nun der Polizei etwas vormacht oder der Mutter, dem Ehemann, Freunden oder sich selbst, die Symptome sind immer die gleichen. Man ist angespannt, wütend, deprimiert. Lügen machen Menschen klein. Die Wahrheit tut das Gegenteil... Natürlich sieht es bisweilen so aus, als sei die Wahrheit das Letzte, was wir wollen. Aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft es vorkommt, dass ich einen Verdächtigen zu einem Geständnis bringe und er mich danach auf diese bestimmte Weise ansieht, voller Erleichterung. Es ist ganz seltsam: Manche bedanken sich sogar bei mir.«
»Soll das heißen, ich kenne die Wahrheit?«
»Aber ja. Ganz sicher. Sie ist da. Gut versteckt. Und sie wird Ihnen vielleicht nicht gefallen, wenn Sie sie entdecken. Aber sie ist da.«
»Wie soll ich sie finden? Soll ich mich etwa selbst verhören?«
»Wissen Sie, das trifft es ziemlich genau. Sie müssen nach den gleichen Dingen Aus schau halten wie ich: nach Zorn, Niedergeschlagenheit, Verleugnung, Ausreden, Rationalisierung. Wann fühlen Sie
sich so und weshalb? Was steckt hinter diesem oder jenem Gefühl? Und lassen Sie sich nichts durchgehen. Bleiben Sie am Ball. Sie werden herausfinden, was Sie wirklich möchten.«
Lucy Richter beugte sich vor und umarmte Dance – was für die Ermittlerin eine keineswegs alltägliche Erfahrung darstellte.
Die Soldatin lächelte. »He, ich hab eine Idee. Lassen Sie uns ein Selbsthilfebuch schreiben. Freiheit durch Eigenverhör . Das wird ein Bestseller.«
»In unserer reichlich bemessenen Freizeit.« Dance lachte.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher