Gehetzte Uhrmacher
von seiner Firma für sechs Monate nach Anchorage versetzt. Das Haus ist leer und zu vermieten. Hier ist sein Foto.«
Das Bild stammte von einem Führerschein und zeigte einen
Mann, der deutlich anders aussah als der Kerl, den sie gestern verhaftet hatten.
Rhyme nickte. »Sehr schlau. Er hat in der Zeitung die Anzeigen durchgesehen, ein Haus gefunden, das seit einer Weile auf dem Markt ist, und darauf spekuliert, dass es wegen Weihnachten auch während der nächsten paar Wochen nicht vermietet werden würde. Genau wie bei der Kirche. Und er hat den Führerschein gefälscht, den er bei sich hatte. Den Reisepass ebenfalls. Wir haben diesen Mann von Anfang an unterschätzt.«
»Der Eigentümer – der echte Duncan – hatte Schwierigkeiten mit seinen Kreditkarten«, rief Cooper mit Blick auf den Monitor. »Jemand ist unter seinem Namen aufgetreten.«
Lincoln Rhyme verspürte tief im Innern einen Schauder, wo er theoretisch gar nichts fühlen konnte. Er hatte so eine Ahnung, dass sich unerkannt und mit zunehmender Geschwindigkeit eine Katastrophe anbahnte.
Dance musterte das Standbild von Duncans Gesicht genauso eindringlich, wie Rhyme sonst auf seine Beweistabellen starrte. »Was hat er wirklich vor?«, grübelte sie laut.
Auf diese Frage hatten sie bislang nicht mal den Hauch einer Antwort.
Charles Vespasian Hale, der Mann, der sich als Gerald Duncan, der Uhrmacher, ausgegeben hatte, saß in der U-Bahn und sah auf seine Armbanduhr (die Breguet-Taschenuhr, die ihm ans Herz gewachsen war, hätte nicht zu seiner kommenden Rolle gepasst).
Alles verlief genau nach Plan. Er kam soeben aus dem Brooklyner Viertel, in dem sein Hauptversteck lag, und verspürte sowohl Vorfreude als auch Anspannung. Dennoch hatte er sich noch nie im Leben so ausgeglichen gefühlt.
Von dem, was er Vincent Reynolds über seine persönliche Vergangenheit erzählt hatte, entsprach natürlich kaum etwas der Wahrheit. Wie auch? Er wollte seinen Beruf noch lange ausüben und hatte gewusst, dass der niederträchtige Vergewaltiger beim ersten Anzeichen von Druck alles an die Polizei verraten würde.
Hale war in Chicago geboren, als Sohn eines Lateinlehrers (daher auch sein zweiter Vorname, nach einem römischen Kaiser) und einer Frau, die als Leiterin der Abteilung für Damenoberbekleidung
in einem großen Kaufhaus arbeitete. Die Eheleute redeten nicht viel und unternahmen so gut wie nichts zusammen. Im Anschluss an das stille Abendessen begab der Vater sich tagtäglich zu seinen Büchern, die Mutter an ihre Nähmaschine. Hin und wieder nahmen sie in zwei getrennten Sesseln vor dem kleinen Fernsehgerät Platz und widmeten sich dem, was sie unter Familienaktivitäten verstanden: Sie sahen sich schlechte Sitcoms und austauschbare Krimiserien an, die ihnen eine einzigartige Form der Kommunikation gestatteten – indem sie Kommentare über die Sendungen abgaben, teilten sie einander die Wünsche und Vorwürfe mit, für deren direkte Äußerung die beiden niemals den Mut aufgebracht hätten.
Stille...
Der Junge blieb den größten Teil seines Lebens ein Einzelgänger. Er war ein nicht geplantes Kind, und seine Eltern behandelten ihn förmlich, gleichgültig und mit einer gewissen Befangenheit, als wäre er eine seltene Pflanze, von der sie nicht genau wussten, wie man sie begießen und düngen musste. Die Stunden der Langeweile und Einsamkeit setzten ihm immer mehr zu, und Charles suchte verzweifelt nach einem Zeitvertreib, weil er fürchtete, die unerträgliche Stille des Hauses würde ihn ersticken.
Er verbrachte viele Stunden unter freiem Himmel, ging wandern und kletterte auf Bäume. Aus irgendeinem Grund war es draußen weniger schlimm, allein zu sein. Es gab immer irgendeine Zerstreuung, und hinter jedem Hügel oder schon auf dem nächsten Ast des Ahornbaumes konnte etwas Neues der Entdeckung harren. In der Schule machte er in der Biologie-Arbeitsgruppe mit. Er nahm an allen möglichen Exkursionen teil und war stets der Erste, der die Seilbrücke überquerte, von der Klippe ins Wasser sprang oder einen Berghang hinunterrodelte.
Für die Stunden, die er trotzdem drinnen bleiben musste, gewöhnte Charles es sich an, Dinge zu ordnen. Büromaterial, Bücher und Spielzeuge zu sortieren half ihm, die qualvolle Zeit zu überbrücken. Wenn er das tat, fühlte er sich nicht einsam, litt er nicht unter Langeweile, hatte er keine Angst vor der Stille.
Wusstest du, Vincent, dass »meticulous«, das englische Wort für gewissenhaft, sich aus dem
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