Gehetzte Uhrmacher
lateinischen »meticulosus« ableitet, was furchtsam bedeutet?
Sobald etwas nicht präzise und ordentlich war, wurde er wütend, auch wenn es sich nur um etwas so Nebensächliches wie eine schiefe Eisenbahnschiene oder eine verbogene Fahrradspeiche handelte. Alles, das nicht einwandfrei funktionierte, verursachte ihm geradezu körperliches Unwohlsein, so wie andere Leute zusammenzucken, wenn jemand mit dem Fingernagel über eine Tafel kratzt.
Zum Beispiel die Ehe seiner Eltern. Nach der Scheidung sprach er mit keinem der beiden je wieder ein Wort. Das Leben hatte geordnet und tadellos zu verlaufen. Andernfalls sollte es einem freistehen, die unordentlichen Elemente vollständig auszumerzen. Er betete nicht (es gab keine empirischen Beweise, dass man sein Leben ordnen oder seine Ziele erreichen konnte, indem man mit einem göttlichen Wesen kommunizierte), aber falls Charles gebetet hätte, hätte er sich den Tod seiner Eltern gewünscht.
Hale verpflichtete sich für zwei Jahre bei der Armee und blühte in dieser strikt geordneten Umgebung auf. Er ging auf die Schule für Offiziersanwärter und erregte die Aufmerksamkeit seiner Professoren, die ihm nach der Verleihung des Offizierspatents rieten, Dozent für Militärgeschichte sowie taktische und strategische Planung zu werden, weil er auf diesen Gebieten brillierte.
Im Anschluss an seine Entlassung brachte er ein Jahr mit Wandern und Bergsteigen in Europa zu und kehrte dann in die USA zurück, wo er als Investmentbanker und Risikokapitalgeber arbeitete und abends Jura studierte.
Eine Zeit lang war er Anwalt und berühmt für seine meisterhaft strukturierten Geschäftsabschlüsse. Er verdiente sehr viel Geld, aber sein Leben blieb von Einsamkeit durchzogen. Beziehungen ging er aus dem Weg, denn sie erforderten Improvisation und waren von unlogischem Verhalten geprägt. An die Stelle einer Geliebten trat mehr und mehr seine Leidenschaft für Planung und Ordnung. Und wie jeder, der statt einer echten Beziehung eine fixe Idee lebt, suchte Hale nach intensiveren Möglichkeiten der Befriedigung.
Vor sechs Jahren fand er die perfekte Lösung. Er beging seinen ersten Mord.
Hale wohnte in San Diego und erfuhr, dass einer seiner Geschäftspartner schwer verletzt worden war, weil irgendein betrunkener
Autofahrer dessen Wagen gerammt hatte. Der Unfall zertrümmerte die Hüfte des Opfers und brach ihm beide Beine, von denen eines amputiert werden musste. Der Fahrer ließ keinerlei Reue erkennen, leugnete beharrlich seine Schuld und warf sogar dem Opfer vor, den Unfall verursacht zu haben. Er wurde vor Gericht verurteilt, kam als Ersttäter aber mit einer milden Strafe davon. Dann versuchte er, Hales Geschäftspartner um Geld zu erpressen.
Hale beschloss, nun sei es eindeutig genug, und entwickelte einen komplizierten Plan, um den Jungen zur Aufgabe zu nötigen. Aber als er alles noch einmal durchging, hatte er kein gutes Gefühl dabei. Der Plan kam ihm unbeholfen vor und nicht so präzise konstruiert, wie er das wollte. Schließlich erkannte er, woran es lag. Sein Plan jagte dem Opfer einen Schreck ein, aber ließ es am Leben. Falls der Erpresser starb, würde alles reibungslos laufen und am Ende nichts auf Hale oder seinen verletzten Kollegen hindeuten.
Doch würde er tatsächlich einen Menschen töten können? Die Idee klang absurd.
Ja oder nein?
An einem regnerischen Oktoberabend traf er seine Entscheidung.
Der Mord verlief wie am Schnürchen, und die Polizei argwöhnte nie, es könne sich um etwas anderes gehandelt haben als um einen bedauerlichen Unfall im Haushalt, der zu einem tödlichen Stromschlag geführt hatte.
Hale rechnete mit Gewissensbissen. Aber es kamen keine. Stattdessen war er in Hochstimmung. Der Plan hatte so perfekt funktioniert, dass der Mord dagegen irrelevant wirkte.
Der Süchtige wollte mehr von seiner Droge.
Wenig später war Hale an einem Joint Venture in Mexico City beteiligt – es ging um den Bau einer Wohnanlage mit luxuriösen Haziendas. Ein korrupter Politiker legte dem Projekt dermaßen viele Stolpersteine in den Weg, dass es kurz vor dem Scheitern stand. Hales mexikanischer Kollege erklärte, dieser unbedeutende Amtsträger habe das schon häufig gemacht.
»Wie schade, dass wir ihn nicht loswerden können«, klagte Hale.
»Da lässt sich nichts machen«, sagte der Mexikaner. »Der Kerl ist unangreifbar.«
Das erregte Hales Interesse. »Warum?«
Der korrupte Bezirksbevollmächtigte sei ein Sicherheitsfanatiker, erklärte der
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