Gehetzte Uhrmacher
den anderen im Raum zu. »Verehrte Generäle, Vertreter des Verteidigungsministeriums, des Außenministeriums und der Stadt New York, Kameraden aus den Streitkräften und Gäste«, sagte er mit tiefer Stimme. »Ich freue mich, Sie heute hier zu dieser Feierstunde begrüßen zu dürfen, mit der wir achtzehn tapfere Soldatinnen und Soldaten ehren wollen, die ihr Leben riskiert und ihre Bereitschaft gezeigt haben, zum Schutz der Freiheit unseres Landes das höchste Opfer zu bringen und die Sache der Demokratie überall auf der Welt zu vertreten.«
Die Gäste klatschten Beifall und erhoben sich von ihren Plätzen.
Als es wieder ruhig wurde, begann General Paulin mit seiner Rede. Am Anfang hörte Lucy Richter ihm noch zu, aber schon bald
ließ ihre Konzentration nach. Sie betrachtete die Zivilisten im Raum – die Familienangehörigen und Gäste der Soldaten. Menschen wie ihr Vater, ihre Mutter, ihr Mann und ihre Tante, die Ehegatten, die Kinder, die Eltern und Großeltern, die Freunde.
Im Anschluss an die Zeremonie würden diese Leute an ihren Arbeitsplatz oder in ihr Zuhause zurückkehren. Sie würden sich schlicht und einfach wieder der Aufgabe widmen, ihr Leben zu führen, Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute.
Lucy Richters militärische Haltung ließ natürlich kein Lächeln zu, aber sie spürte, wie ihr Gesicht sich entspannte und die Last sich von ihren Schultern hob, so wie der bittere Nebel von einem heißen Wind verweht wurde. Die Wut, die Niedergeschlagenheit, die Verleugnung – alles, wonach sie laut Kathryn Dance Ausschau halten sollte – waren plötzlich verschwunden.
Sie schloss kurz die Augen und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Mann zu, der nach dem Präsidenten der Vereinigten Staaten ihr Oberbefehlshaber war. Was auch immer in ihrem Leben noch geschehen mochte, sie hatte ihre endgültige Entscheidung getroffen und war damit zufrieden.
Charles Hale befand sich unweit des AWS-Gebäudes auf der Herrentoilette eines kleinen Cafés. In einer der dreckigen Kabinen holte er eine große Mülltüte unter seinem Unterhemd hervor. Er streifte die Uniform ab und zog sich die Jeans, den Pullover, die Handschuhe und die Jacke an, die er soeben gekauft hatte. Dann steckte er die Uniform samt Mantel und Mütze in die Tüte. Die Pistole behielt er. Er nahm den Akku und die SIM-Karte aus seinem Telefon und warf sie zu der Uniform. Dann stopfte er die Tüte in den Mülleimer des Toilettenraums und verließ das Café.
Im nächsten Laden kaufte er gegen Bargeld ein Prepaid-Mobiltelefon und folgte dem schattigen Bürgersteig, bis er sich drei Blocks vom AWS-Gebäude entfernt hatte. Von dort aus konnte er gerade noch die Rückseite des Hauses und die Gasse erkennen, in der man das erste »Opfer« des Uhrmachers gefunden hatte. Der helle Fleck im fünften Stock war eines der Fenster des Konferenzraumes, in dem die Zeremonie stattfand.
Hales Jacke war dünn, und er nahm an, ihm hätte kalt sein müssen, doch vor lauter Aufregung spürte er nichts dergleichen. Er sah
auf seine Digitaluhr, die mit den Zeitschaltern in den Zündern der Bomben synchron ging.
Es war 12.14:19 Uhr. Die Zeremonie hatte um zwölf Uhr angefangen. Bei Bomben – so hatte er im Zuge seiner erschöpfenden Recherchen gelernt – musste man den Leuten stets Gelegenheit geben, es sich bequem zu machen. Die letzten Nachzügler würden eintreffen, und die Wachen entspannten sich allmählich.
12.14:29.
Ein hübscher Aspekt dieser speziellen Bomben war die zufällige Tatsache, dass die Floristin Joanne die Vasen mit Hunderten von winzigen Glasmurmeln gefüllt hatte. Falls jemand nicht schon durch die Explosion getötet oder zumindest schwer verletzt wurde, würden die Glaskügelchen ihm den Rest geben.
12.14:44.
Hale ertappte sich dabei, dass er sich vorbeugte und das Gewicht auf die Fußballen verlagerte. Es bestand immer die Möglichkeit, dass etwas schiefging – dass die Sicherheitsbeamten in letzter Minute noch einmal nach Sprengstoff suchten oder dass jemand auf dem Monitor der Überwachungskamera gesehen hatte, wie er das Gebäude betrat und nach verdächtig kurzer Zeit wieder verließ.
12.14:52.
Dennoch – das Risiko eines Fehlschlags versüßte den Sieg über die Langeweile nur umso mehr. Seine Augen blieben unverwandt auf die Gasse hinter dem AWS-Gebäude gerichtet.
12.14:55.
12.14:56.
12.14:57.
12.14:58.
12.14:59.
12.15:00...
Auf einmal schoss ein gewaltiger Feuerball lautlos aus dem Fenster des
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