Gehetzte Uhrmacher
verschiedenen Fahrzeugmodellen der unterschiedlichsten Größen verwendet wurde. Und was die Reifenspuren anging, so war der Teil der Gasse, in dem der Täter geparkt hatte, mit Salz bedeckt. Die Laufflächen der Reifen konnten daher nicht in vollem Umfang mit den Pflastersteinen in Kontakt geraten und hatten keine brauchbaren Spuren hinterlassen.
»Die Karre ist ein Reinfall. Na gut, dann wenden wir uns eben seinem Liebesbrief zu.«
Cooper zog das weiße Blatt Papier aus einem Plastikumschlag.
Der Kalte Vollmond steht am Himmel
und scheint auf den Leichnam der Erde,
bezeichnet die Stunde des Todes
und das Ende der Reise, die mit der Geburt begann.
»Haben wir?«, fragte Rhyme.
»Haben wir was?«, fragte Pulaski, als sei ihm etwas entgangen.
»Na, Vollmond natürlich. Heute.«
Pulaski blätterte in Rhymes Exemplar der New York Times . »Ja. Voll.«
»Warum hat er ›Kalte‹ großgeschrieben?«, fragte Dennis Baker.
Cooper stellte im Internet ein paar Nachforschungen an. »Ah, das ist ein Monat im Mondkalender... Wir richten uns nach dem Lauf der Sonne, woraus sich ein Jahr mit dreihundertfünfundsechzig Tagen ergibt. Der Mondkalender orientiert sich an der Spanne zwischen Neumond und Neumond. Die einzelnen Monate stehen für den Zyklus unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod. Sie sind nach wichtigen Ereignissen des Jahres benannt: der Erdbeermond im Frühling, der Erntemond und der Jagdmond im Herbst. Der Kalte Mond fällt ungefähr mit unserem Dezember zusammen, dem Monat des Winterschlafes und des Todes.«
Wie Rhyme zuvor bereits angemerkt hatte, waren Verweise auf den Mond oder astrologische Zusammenhänge vor allem bei Serienmördern beliebt. In der Fachliteratur wurde vereinzelt von Tätern berichtet, die durch den Mond sogar zu ihren Verbrechen veranlasst worden seien, aber Rhyme glaubte, dass es sich dabei lediglich um fehlgeleitete Suggestionen handelte – so wie die Zunahme von Berichten über Entführungen durch Außerirdische, unmittelbar nachdem Steven Spielbergs Film Unheimliche Begegnung der dritten Art in den Kinos angelaufen war.
»Jag den Namen ›Uhrmacher‹ durch die Datenbanken, ebenso den Begriff ›Kalter Mond‹. Ach ja, und die anderen Monate des Mondkalenders ebenfalls.«
Eine zehnminütige Suche beim Violent Criminal Apprehension Program des FBI und dem National Crime Information Center sowie in einigen Datenbanken auf Bundesstaatsebene erbrachte keine Treffer.
Rhyme bat Cooper herauszufinden, woher das Gedicht stammte, aber auf mehreren Dutzend Poesie-Websites fand sich nichts auch nur annähernd Ähnliches. Der Techniker rief außerdem einen Literaturprofessor der New York University an, der ihnen bereits verschiedentlich behilflich gewesen war, doch der Mann hatte noch nie von dem Gedicht gehört. Der kurze Text war zudem entweder
zu unbekannt, um in irgendeiner Suchmaschine aufzutauchen, oder – was wahrscheinlicher war – es handelte sich um eine Schöpfung des Uhrmachers.
»Das Blatt ist handelsübliches Papier aus einem Computerdrucker«, sagte Cooper. »Der Toner gehört zu einem Hewlett-Packard LaserJet. Ansonsten hat er keine charakteristischen Merkmale.«
Rhyme schüttelte angesichts der spärlichen Beweislage enttäuscht den Kopf. Falls der Uhrmacher tatsächlich ein Serientäter war, spähte er in diesem Moment womöglich schon sein nächstes Opfer aus – oder brachte es bereits um.
Kurz darauf traf Amelia Sachs ein und zog ihre Jacke aus. Sellitto stellte ihr Dennis Baker vor, der sagte, er sei sehr froh, sie im Team zu wissen. Ihr guter Ruf eile ihr voraus, fügte der eheringlose Beamte hinzu und lächelte sie an. Sachs blieb professionell und ging nicht auf den Flirtversuch ein, sondern gab Baker nur kurz die Hand. Für eine Frau bei der Polizei gehörten derartige Situationen zum Alltag.
Rhyme setzte Sachs über den bisherigen Stand der Spurenanalyse in Kenntnis.
»Das ist nicht viel«, murmelte sie. »Er ist gut.«
»Was hat es mit dem Verdächtigen auf sich?«, fragte Baker. Sachs nickte in Richtung der Tür. »Er müsste jeden Moment hier sein. Als wir ihn befragen wollten, hat er die Flucht ergriffen, aber ich glaube nicht, dass er unser Mann ist. Ich hab ihn überprüft. Verheiratet, seit fünf Jahren als Börsenmakler bei ein und derselben Firma angestellt, keine Vorstrafen. Und die da könnte er wahrscheinlich keinen Meter weit tragen.« Sie wies auf die Eisenstrebe.
Es klopfte an der Tür.
Hinter Sachs brachten zwei uniformierte Beamte
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