Gehirnfluesterer
selbst bei mehrmaligem Lesen nicht unbedingt.
Das gleiche Phänomen ist es mit den Neunern. Wie viele haben Sie gezählt? Zehn, vielleicht elf? Wenn ich Ihnen nun sage, die
richtige Antwort ist zwanzig, und Sie sich wundern, dann denken Sie an 90, 91, 92, 93 … etc.
Ähnlich bizarr ist die sogenannte »Thatcher-Illusion«. Wenn Sie es nicht schon getan haben, stellen Sie die Lady vom Kopf
auf die Füße.
Und unser Angler vom Beginn des Kapitels? Auch da war keine Zauberei am Werk, geholfen hat ein wenig Pythagoras.
Ausgemachte Verwirrungen
Solche, wie man sagen könnte, kognitiven Bananenschalen liegen überall herum, und unser Gehirn hat die fatale Neigung, darauf
auszurutschen. Das hat mit einem Phänomen zu tun, das die Psychologen
mental set
, Denkmuster, nennen; gemeint sind durch Erziehung und Erfahrung festgelegte Einstellungen; umgangssprachlichnennt man das gesunden Menschenverstand und meint damit unseren Autopiloten, dem wir häufiger, als es uns bewusst ist, die
Steuerung unserer Alltagsgeschäfte überlassen. Im Hinblick auf den Vorgang etwa, in dem wir Sprache verarbeiten, zeigt dieser
Autopilot die phänomenale Macht des menschlichen Geistes:
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Und zwar deswegen, weil der menschliche Verstand nicht jeden einzelnen Buchstaben liest, sondern das Wort als Ganzes. Das
gilt besonders für häufig verwendete »Funktionswörter« (
Synsemantica
) wie Hilfsverben, Partikel, Pronomen etc., die keine eigene lexikalische Bedeutung, sondern nur in Verbindung mit anderen
Wörtern eine Funktion haben. Gerade bei solchen häufig verwendeten Wörtern fällt es uns leicht, die richtige Buchstabenfolge
zu entziffern.
Diese Denkmuster erklären auch, warum solche psychologischen Einbrecher wie Keith Barrett in der Lage sind, völlig Fremde
zu Dingen zu bewegen, die zu tun gar kein Grund besteht. Ellen Langer, Professorin für Psychologie an der Harvard University,
verdanken wir eine klassische Demonstration dieses Phänomens in einem Experiment, das sich ausgerechnet um den Fotokopierer
in einer Bibliothek dreht. Langer ging von der Erfahrung aus, dass alle Menschen nichts mehr hassen als Anstehen fürs Fotokopieren
und Vordrängler. (Es würde mich nicht wundern, wenn Anthropologen das irgendwann einmal, neben Inzest und Mord, in die Liste
universeller Tabus aufnehmen würden.) Für ihr Experiment erfand Langer zwei unterschiedliche Ausreden, mit deren Hilfe es
jemandem gelingen sollte, an die Spitze einer Warteschlange zu kommen. Die erste lief darauf hinaus, dass es die fragliche
Person unendlich eilig habe und auchnur ein Blatt kopieren müsse – der Standardspruch, der immer zieht. Die zweite Person dagegen sagte Folgendes: Bitte, kann
ich den Fotokopierer benutzen, denn ich muss den Fotokopierer benutzen.
Man wird es nicht glauben, aber dieser vollkommen sinnlose Satz war nicht weniger wirkungsvoll als der erste – ein definitiver
Beweis dafür, dass Begründungen unter bestimmten Umständen genauso verarbeitet werden wie Funktionswörter. Solange es sie
gibt, besteht für uns in der Regel kein Grund, sich genauer mit ihrer Natur auseinanderzusetzen. Es gibt sie, wir achten nicht
besonders darauf, und damit hat es sich. Kurz, sie sind ein unverbrüchlicher Teil der Syntax des alltäglichen Lebens.
Ablenkungsmanöver
Gegen Aufmerksamkeitsviren und Denkmuster kommen wir oft nicht an – nicht nur, wenn wir gelangweilt am Kopierer anstehen.
Wie wir vorher bei der »9« und dem »N« gesehen haben, gibt es Situationen, in denen unser Gehirn sich überschätzt und eine
Entscheidung trifft, bevor
wir
das tun.
Jim und Ellie Ritchie mussten auf schmerzliche Weise lernen, was es mit dem Mental Set auf sich hat. Mitten im Trubel ihres
Hochzeitsempfangs in einem noblen Hotel in Schottland stellte der Trauzeuge plötzlich fest, dass die Hochzeitsgeschenke nicht
mehr dort waren, wo er sie hatte hinbringen lassen. Er erkundigte sich beim Hotelpersonal, und schließlich konnte die junge
Frau vom Empfang die Sache aufklären. Vor etwa einer Stunde waren ein paar Männer mit einem Lastwagen aufgetaucht. Sie trugen
einheitliche
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