Gehorche mir!
ihrer schicken Penthousewohnung führten. „Kurz nach Franklins Geburt starb meine Mutter. Mein Vater, der aufgrund jahrelangen Alkoholkonsums körperlich und geistig immer mehr abbaute, war auf meine Hilfe angewiesen. Vor vierzig Jahren konnte von einem sozialen Netz noch keine Rede sein. Die Rente, die mein Vater bekam, reichte vorn und hinten nicht, und meine Kräfte schwanden zusehends, denn die Situation überforderte mich völlig. Ein Baby und einen demenzkranken Vater zu versorgen – das war hart. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich den Weg in die Prostitution fand. Meine Erinnerungen sind überschattet von schlaflosen Nächten und hungrigen Tagen. Nach dem Tod meines Vaters wurde alles sogar noch schlimmer.“
Alan überflog eine Spalte und las da weiter, wo ihm der Begriff „SM“ ins Auge sprang.
„SM war damals noch kein Thema, über das man sprach, aber ich merkte bald, dass die Freier mir mehr bezahlten, wenn sie mich schlecht behandeln durften. Anfangs waren es nur Beschimpfungen, später ließ ich sie auch handgreiflich werden. Oft hatte ich am nächsten Tag ein blaues Auge und Kratzer oder schlimmere Verletzungen. Dafür musste ich nicht mehr so oft arbeiten. Zwei Nächte pro Woche reichten, damit ich uns ernähren konnte.“
„Wie alt war Ihr Sohn damals?“, will ich von ihr wissen
.
Nachdenklich streicht Kimberley sich eine Strähne ihres naturblonden Haars aus der Stirn. „Sie meinen, ob er von den Männerbesuchen und den Misshandlungen etwas mitbekam? Nein, dafür habe ich gesorgt. Wenn ich arbeitete, sperrte ich ihn in den Keller. Ich hatte ihm dort ein gemütliches Eck mit einem Bett und Spielzeug eingerichtet. Er hatte einen Nachttopf und genug zu essen und zu trinken. Aus heutiger Sicht war ich eine Rabenmutter, aber ich habe es nur getan, um ihn vor dem Leben zu beschützen.“
„Dass Sie eine schlechte Mutter waren, würde Ihnen sicher niemand unterstellen, wenn man bedenkt, wie erfolgreich Ihr Sohn Franklin mittlerweile als Gesangs-Coach ist. Wie gut, dass Sie sein Talent erkannt und gefördert haben.“
„Das Talent war nicht zu überhören. Jeden Abend hat er sich selbst Schlaflieder vorgesungen. Manchmal ging das stundenlang so.“
Alan übersprang ein paar Absätze, in denen Kimberleys Penthouse beschrieben wurde und im Vergleich dazu die Umgebung, in der sie früher gelebt hatte.
„Es gab einen entscheidenden Wendepunkt – meinen Selbstmordversuch mit Anfang zwanzig. Ich hatte mir eine Geschlechtskrankheit zugezogen und konnte nicht mehr arbeiten. Franklin war gerade fünf geworden, doch er klammerte immer mehr, anstatt selbständiger zu werden. Mir kam der Gedanke, dass er ohne mich besser dran wäre. Er käme in ein Heim, in dem man ihn wenigstens anständig kleiden und ernähren würde. Er wäre gezwungen mit anderen Kindern zu spielen und würde seine Scheu überwinden. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, waren das alles vorgeschobene Gründe. Das Hauptproblem war, dass ich mich vor dem Leben ekelte, vor Männern, vor mir selbst, einfach vor allem. Es war eine Kurzschlusshandlung. Ich griff nach einem Messer und stach mir mit aller Kraft ins Handgelenk. Franklin hatte ich an diesem Morgen zu einer Nachbarin gebracht, die manchmal auf ihn aufpasste. Aber sie bekam unerwarteten Besuch und brachte Franklin zurück, genau in dem Moment, als das Blut zu fließen begann.“
Franklin, so erfuhr Alan weiter, hatte für ein paar Wochen bei der Nachbarin gelebt, bis Kimberley sich wieder um ihn kümmern konnte. Aufgrund des Selbstmordversuchs wurde sie von einer Sozialarbeiterin betreut. Es ging aufwärts. Die Larssons bekamen eine bessere Wohnung und Kimberley kellnerte in verschiedenen Pubs, später in Restaurants. Aus eigener Kraft arbeitete sie sich in immer bessere Positionen hoch und machte sich schließlich mit einer Event-Agentur selbständig.
„Mir wurde nichts geschenkt“, sagt Kimberley, als wir uns verabschieden. „Umso dankbarer bin ich für das, was ich erreicht habe.“
Alan legte die Blätter auf den Tisch, schwenkte das Wasser im Glas und ließ das Gelesene auf sich wirken: Ein fünfjähriger Junge erlebt den Selbstmordversuch seiner Mutter mit. Nachhaltiger kann man ein Kind fast nicht traumatisieren, zumal ein so vorgeschädigtes Kind, wie er es gewesen sein musste. Aufgewachsen bei seiner noch jugendlichen Mutter, die sich gegen Geld von Männern verprügeln ließ, und seinem demenzkranken Großvater. Ein Kind, das nachts oft in den Keller gesperrt
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