Gehorche mir!
sich auf Sucht- und Angststörungen spezialisiert. Da sie selbst unter einer ausgeprägten Angst litt, vor Publikum zu sprechen, konfrontierte sie sich zu Therapiezwecken ständig damit, indem sie auf Vortragsreisen ging. Als Alan ein Kind war, dienten er und seine Stofftiere und Actionfiguren ihr als Testpublikum, wenn sie zu einem neuen Thema eine freie Rede einstudierte. Anfangs hatte er vor allem mitgemacht, weil es danach zur Belohnung ein großes Eis gab. Mit etwa acht Jahren fing er an interessiert zuzuhören, fand es immer spannender, was sie erzählte. Mit 12 stellte er zum ersten Mal Zwischenfragen und lernte so eine Menge über die menschliche Psyche.
„Ich komme mir so idiotisch vor, wenn ich dort aufkreuze“, schloss Celia ihr Geständnis. „Ich und mein hysterisches Getue.“
„Psychologen bezeichnen das als generalisierte Angststörung“, sagte er.
Ihr Kopf ruckte in seine Richtung. „Das klingt doch gleich viel besser als ‘hysterisches Getue’“.
Er lachte. „Ja, nicht wahr?“
„Woher weißt du das eigentlich?“
„Meine Großmutter Hannah ist Psychologin. Ich habe viel von ihr gelernt.“ Hannah war das einzige Mitglied seiner Familie, das über die Details seines Arbeitsplatzes informiert war. Sie hatte ihm sogar eine Liste mit Symptomen und auffälligen Verhaltensweisen gegeben, auf die er bei den Gästen achten sollte, da ein dominanter Mann nicht unbedingt ein entspannter, zufriedener Sadist war, sondern unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden könnte. Schlimmstenfalls war er ein Borderliner, der in Beziehungen weder Nähe noch Distanz ertragen konnte und an Verlustängsten und krankhaftem Kontrollwahn litt. Solche instabilen Menschen, denen es nur um das Ausleben ihrer zwanghaften Machtfantasien ging, konnten gefährlich werden. Alan hatte tatsächlich bei dem einen oder anderen Gast solche Persönlichkeitsmerkmale feststellen können, allerdings hatten sie nie bedrohliche Ausmaße angenommen. Das strikte Regelwerk, in das alle Aktivitäten auf Glowcastle eingebunden waren, verhinderte, dass Situationen außer Kontrolle gerieten.
„Und was empfiehlt Hannah gegen eine Angststörung?“, fragte Celia.
„Ihre grundlegende Heilmethode für Ängste jedweder Art lautet grob vereinfacht: In was man sich reinsteigert, kann man sich auch wieder raussteigern.“
„Ich bin gerade dabei, aber zu spät“, sagte Celia. „Ich hätte mich schon daheim raussteigern sollen und gar nicht erst einen Flug buchen.“ Wieder warf sie ihm einen Blick zu. „Andererseits ... wäre es schade gewesen.“
Er nahm kurz die Hand vom Steuer und streichelte mit der Rückseite der Finger ihre Wange. „Das finde ich auch.“
Sie schien von der zärtlichen Geste peinlich berührt zu sein. Das „anständige Mädchen“ senkte den Blick. „Als Leanne jünger war, noch bevor ich sie kennengelernt habe, wäre sie beinahe in eine Magersucht reingerutscht. Das ist einer der Gründe, warum ich so einen starken Drang habe, sie zu behüten.“
„Hannah hat einen unkonventionellen verhaltenstherapeutischen Ansatz bei Patientinnen, die unter Anorexie leiden. Sie schickt magersüchtige Mädchen als therapiebegleitende Maßnahme in einen Zoo, wo sie beim Füttern der Jungtiere helfen dürfen. Das positive Gefühl, das sie dabei erleben, wenn sie ein Tier heranwachsen und gedeihen sehen, ändert ihre Einstellung dem eigenen Körper gegenüber und lenkt sie von den ständig kreisenden Vermeidungsgedanken ab – dem Kalorienzählen, dem Fixiertsein aufs Hungern. Plötzlich wird Essen wieder attraktiv und normal.“
„Klingt einleuchtend. Kreisende Gedanken“, wiederholte sie. „Das ist auch bei mir das Problem. Wo kommt diese Angststörung her? Wieso machen die einen Menschen sich mehr Sorgen und andere weniger?“
„Das ist wohl eine angeborene Veranlagung. Erziehung spielt sicher auch eine Rolle. Und so kommt es dazu, dass man Dinge, die tatsächlich passieren können, statistisch überschätzt. Leanne hätte ja tatsächlich einem Mädchenhändler in die Hände fallen können. Auch abwegige Dinge passieren. Nur eben sehr, sehr selten.“
Sie verließen die A82. Alan ließ das Fenster herunter und atmete die würzige Abendluft ein.
„Welche Therapie hätte Hannah mir empfohlen?“, wollte Celia wissen.
„Im Grunde machst du bereits genau das Richtige. Du unterziehst deine Ängste einer Realitätsprüfung, indem du Leanne nachreist und feststellen wirst, dass deine Sorge
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