Geht's noch?
Leben stand in diametralem Gegensatz zu ihren Zielen und Bedürfnissen.
Sie war von ihrem Vater zu dem Selbstverständnis erzogen worden, durch ihre Arbeit etwas in der Welt zu bewegen, und während ihrer kurzen Karriere im Sozialdienst war sie dem bestimmt gerecht geworden. Sie idealisierte ihren Vater, das war ihr klar, aber selbst ihre Mutter sprach stets davon, welch ein vortrefflicher Mann er gewesen war. Mach deinen Vater stolz, Amy. Sie hatte sich bemüht.
Sie hatte versagt.
Sie war aus ihrem Job als Sozialarbeiterin entlassen worden, da das Verhalten ihrer Mutter, das in der Zeitung mit Amy an ihrer Seite öffentlich dokumentiert wurde, dem seriösen Auftreten zuwiderlief, das ihr Posten verlangte. Statt sich nach einer anderen Anstellung umzusehen, war sie zurück nach Hause gezogen und hatte dort die Leitungsfunktion im Sozialbereich der Seniorenanlage übernommen, um gleichzeitig auf ihre Verwandten aufpassen zu können. Zweifellos hätte auch dieser Schritt den Beifall ihres Vaters gefunden.
Ihr Vater war der stabilisierende Faktor im Leben von Rose Stone gewesen, und nach seinem Tod hatten ihre Eskapaden zugenommen. Onkel Spencer hatte nie versucht, seine Schwestern zu kontrollieren. Sie standen ihm zwar ebenso wie Amy äußerst nahe, aber er vertrat die Überzeugung, dass die Menschen aus ihren eigenen Fehlern lernen mussten. Abgesehen
davon hätte er, wie Amy wusste, selbst wenn es seine Absicht gewesen wäre, gar nicht viel ausrichten können, da er weit entfernt in New York lebte. Also war Amy eingesprungen und hatte da weitergemacht, wo ihr Vater aufgehört hatte. Sie konnte unnachgiebig sein, wenn es die Situation verlangte, und sie hatte die Dinge in Fort Lauderdale bald gut im Griff.
Wie oft sie ihre Mutter und ihre Tante gegen Kaution aus Polizeigewahrsam freikaufen musste, wenn sie wieder wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufgefallen waren, wusste sie überhaupt nicht mehr zu zählen. Von wilden Parties bis zur pinken Einfärbung des Brunnenwassers im örtlichen Einkaufszentrum anlässlich des Brustkrebs-Bewusstsein-Monats hatten Amys Mutter und Tante ein breites Spektrum von Verstößen gegen die öffentliche Ordnung auf dem Kerbholz.
Dass die Verhaftungen nie zu Schlimmerem als Verwarnungen, Strafgeldern oder einer Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit geführt hatten, lag nur daran, weil der zuständige Richter eine Schwäche für Tante Darla hatte. Und weil Rose die Polizeibeamten regelmäßig mit selbst gebackenem Kuchen versorgte und diesen damit den Pausenabstecher in einen schmierigen Donut-Laden ersparte. Amy war keineswegs eine stocksteife Spießerin, und sie fand ihre Angehörigen mitunter auch richtig amüsant, aber sie hatte stets die Vernünftige, die Retterin, sein müssen. Wie Roper war sie in dieser Gruppe für das verantwortungsvolle Lösen von Problemen zuständig.
Jetzt ergab sich für sie allerdings die Chance, eine eigene Karriere aufzubauen, selbst wenn man mit diesem Job nicht großartig die Welt verändern konnte. Aber sie wollte sich selbst, ihrer Mutter und im weiteren Sinne auch ihrem verstorbenen Vater beweisen, wozu sie in der Lage war.
Sie war nach New York gezogen, weil sie an ihrem Geburtstag im Oktober nach dem Aufwachen in den Spiegel gesehen und festgestellt hatte, dass das Leben an ihr vorbeilief und weiter an ihr vorbeilaufen würde, es sei denn, sie überließ die Verwandten ihrer eigenen Verantwortung und erkämpfte sich ihren ganz persönlichen Platz in der Welt.
Amy seufzte und schüttelte ihren Kopf. Sie hasste es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, weshalb der Job als Presseberaterin bei Hot Zone perfekt zu ihr passte, da sie dort die Person hinter den Prominenten sein würde. Selbst wenn sie es auf eine Beziehung oder auch nur auf eine Affäre mit John Roper ankommen ließe, bliebe da noch sein Lebensstil, der jeden in seiner näheren Umgebung unweigerlich ins Scheinwerferlicht der Presse zog. Und das war etwas, an dem sie keinen Anteil haben wollte, schon gar nicht in dem Maße, den sein Leben verlangte.
Sie musste einfach ihre starken Gefühle für den Mann verdrängen und sich stattdessen ganz auf ihre Arbeit konzentrieren und ein eigenes Leben in New York aufbauen.
Mit einem letzten Blick auf den Anrufbeantworter,
auf dem sich seine Telefonnummer befand, zusammen mit der Aufzeichnung seiner rauen Stimme, die um einen Rückruf bat, schnappte sie sich ihre Handtasche und machte sich auf den Weg in die
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