Geister-Dämmerung
»Bleib stehen, John Sinclair!«
Volltönend hatte sie meine Ohren erreicht. Sie sprach nicht, wie sonst immer, in meinen Gedanken zu mir, nein, sie redete laut und deutlich. Ich aber hatte das Gefühl, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ich kannte die Stimme.
Verdammt, ich kannte sie so genau, denn sie gehörte einem Wesen, das den Anfang und das Ende zu kennen schien, das über das Buch der grausamen Träume ebenso Bescheid wusste wie über Aibon, das Reich der Druiden.
Die Gestalt, die dort stumm und nachdenklich auf dem Felsen saß, war der Seher!
***
Suko war ein Mann, der nicht nur schnell reagieren, sondern auch rasch denken konnte. Da die Frau gesprochen hatte und sich gleichzeitig in Deckung warf, konnte sie nur eine zweite Person gemeint haben, und die stand auf der Schwelle zu einer weiteren offenen Tür. Das Gewehr hielt sie in Anschlag, die Mündung wies auf Suko, der blitzartig zu Boden tauchte, als der andere abdrückte.
Der heiße Gruß aus Blei surrte über seinen Kopf hinweg und jagte irgendwo ins Treppenhaus.
Suko hörte einen Fluch, schnellte vor und krachte mit der Schulter gegen die Tür, die der andere hastig zugeworfen hatte. Die Tür wackelte und zitterte zwar, aber Suko bekam sie nicht aufgestemmt. Schlangengleich zog er sich zurück, da er nicht in Gefahr laufen wollte, von einer durch das Türholz gefeuerten Kugel getroffen zu werden. Und der andere schoss wieder. Er hatte diesmal sogar ziemlich tief gezielt, so dass Suko getroffen worden wäre. Noch einen dritten Schuss jagte der Mann hinterher, und diesmal zackte die Kugel dicht vor Suko in den Boden.
Der Chinese schrie auf. Ein schmerzerfüllter Schrei, der durch das Haus hallte und der von anderen gehört werden musste, wenn dieser nicht taub war. Suko hatte so geschrien, als wäre er erwischt worden. Er hoffte, dass der heimtückische Mörder auf diesen Trick hereinfiel. Der Inspektor lag auf der Seite. Aber so, dass er in Richtung Tür schauen konnte. Ein Bein hatte er angewinkelt, einen Arm ausgestreckt. Diese Haltung sah echt aus.
Zunächst tat sich nichts. Auch von der weiblichen Person hörte und sah Suko nichts. Sie musste sich irgendwo unten in den Räumen verborgen halten. Er vernahm deutlich das Knirschen an der Decke, sah zwar den entstandenen Riss nicht, dafür aber den Staub, der ihm ins Gesicht rieselte.
Ihm fiel das Warten schwer…
Sekunden reihten sich aneinander. Auch nach einer Minute tat sich noch nichts. Nur das Haus selbst arbeitete. Es ächzte, es stöhnte, als würden in seinen Wänden Kräfte wohnen, die dabei waren, es langsam aber sicher zu zerreißen.
Dieses Haus ging unter. Es war ein Relikt inmitten der anderen, der normalen, die zwar altersmäßig nicht jünger waren, aber nicht den dämonischen Keim besaßen wie diese Bude, in der Suko lag. Wartete der andere zu lange, konnte es sein, dass sie beide unter den Trümmern begraben wurden.
Aber er hatte Glück. Der Schrei musste gewirkt haben, denn an der Tür zum anderen Raum hin tat sich etwas. Behutsam wurde sie geöffnet, und der Spalt vergrößerte sich so weit, bis er die Breite einer Hand angenommen hatte. Der andere schaute hindurch.
Jetzt kam es bei Suko darauf an, ob er es schaffte, den Toten zu spielen. Er musste gut sein, sehr gut sogar, durfte weder mit den Augen zwinkern noch mit den Zehen wackeln. Und trotzdem musste er bereit sein, im nächsten Augenblick zu explodieren wie ein Geschoss. Das hässliche Knarren der Tür durchwehte die kleine Diele. Jetzt war die Öffnung so breit, dass sich ein Mensch hindurchschieben konnte. Vorerst geschah dies nicht, dafür erschien ein Rohr, wobei dieses Rohr eine verdammte Ähnlichkeit mit einem Gewehrlauf aufwies. Suko hielt die Augen offen. Er sah, dass die Waffe ein zu einem Gewehr umfunktionierter Spazierstock war, der die tödlichen Ladungen abfeuerte. Eine heimtückische Waffe, wie sie nur feige Mörder benutzen, um andere ohne Warnung zu erschießen.
Auch jetzt musste Suko damit rechnen, getroffen zu werden, wenn der andere auf Nummer Sicher gehen wollte. Zudem war kein Blut zu sehen. Suko hatte sicherheitshalber seine Hand auf den Magen gepresst. Es sollte so wirken, als hätte er seine Finger noch im Todeskrampf in die Wunde gekrallt.
Der andere glaubte ihm, denn er schoss nicht. Irgendwo brannte auch eine trübe Funzel. Sie warf ihr spärliches Licht auch in die Diele und streifte ebenfalls die Gestalt des Mannes, der das Zimmer mit vorsichtig gesetzten
Weitere Kostenlose Bücher