Geisterblumen
einem selbst galt. Jemanden, der seine Hand in deine schob, wenn er Angst hatte, und darauf vertraute, dass du ihn trösten würdest. Jemanden, der dich kannte, entscheidende Dinge über dich wusste und dich trotzdem liebte.
Vielleicht lag es an der Erinnerung oder daran, dass ich den ganzen Tag Aurora gespielt hatte, jedenfalls begann ich ohne Vorwarnung zu weinen.
»Kann man Heimweh haben, wenn man kein Heim hat?«, konnte ich Nina fragen hören.
Ja
, hätte ich gerne gesagt. Das kann man. Ich vermisste sie so sehr. Ich bohrte die Finger in meine Handflächen, um mein Weinen zu stoppen, doch es ging nicht.
Ich wäre lieber mit ihr und nur mit ihr zusammen gewesen, als Aurora zu sein und alles Geld der Welt zu besitzen. Als ich so unter den Sternen stand, ein Haus voller Menschen hinter mir und eine Menge draußen auf dem Rasen, die den kleinsten Blick auf mich erhaschen wollte, fühlte ich mich einsamer als je zuvor in meinem Leben. Einsamer als damals, als meine Mutter mich verlassen hatte. Einsamer als damals, als ich auf mich allein gestellt gewesen war. Und ich hatte mehr Angst als je zuvor.
Wie hatte ich mich nur darauf einlassen können? Was hatte ich mir dabei gedacht?
»Hier«, eine Hand hielt mir ungeschickt eine Packung Papiertaschentücher hin, und ich erkannte die dunklen Umrisse von N. Martinez.
Ich nahm ein Taschentuch und wischte mir Nase und Augen ab. »Dankeschön.«
Ich drehte mich zu ihm, doch es war so dunkel, dass ich ihn nicht genau erkennen konnte. Ich hatte ihn irgendwie als drahtig in Erinnerung, doch als sich seine Gestalt vor dem Mondlicht abzeichnete, bemerkte ich, wie breit seine Schultern waren, wie kräftig und muskulös seine Arme.
»Hast du je darüber nachgedacht, deine Lebensentscheidungen zu überdenken?«
Einfach so. Zack. N. Martinez hielt nichts von Smalltalk. Ich machte einen Schritt nach vorn, so dass wir nebeneinanderstanden, uns aber nicht ansahen. »Nur, weil Sie mich nicht mögen, heißt das nicht, dass mit meinem Leben etwas nicht stimmt.«
Er bewegte sich etwas, als wäre ihm die körperliche Nähe unbehaglich. »Ich habe eher an dich gedacht. Dass ich dich in zwei Tagen zweimal dabei erwischt habe, wie du heimlich weinst.«
Mit ihm zu reden war, als würde man sich selbst unter einer Lupe betrachten, alle Mängel und Unvollkommenheiten riesengroß. »Tut mir leid, wenn es Sie stört. Niemand hat Sie gebeten, sich hier herumzudrücken.«
Er ignorierte meine Bemerkung, duzte mich einfach weiter. »Wenn du meine Schwester wärst, würde ich mir Sorgen machen.« Der aufrichtige Klang seiner Stimme berührte etwas tief in meinem Inneren. Etwas Fremdes, das mir Angst machte … und plötzlich hinaus wollte.
Nein
, sagte ich mir.
Stopp.
Meine Stimme klang hochmütig und barsch in meinen Ohren. »Ich bin nicht Ihre Schwester, oder? Ich bin niemandes Schwester. Ich habe niemanden, der sich um mich sorgen müsste. Und ich brauche niemanden. Ich will niemanden.«
Kurze Pause. »Okay.«
»Es geht mir gut«, sagte ich kalt.
Er legte die Hand an den Mund und räusperte sich. »Darauf möchte ich wetten.«
Ich drehte mich um und betrachtete ihn im Profil. »Tun Sie nicht, als würden Sie etwas über mich oder mein Leben wissen. Sie wissen gar nichts.«
Danach herrschte lange Stille. Als er wieder sprach, sprach er so leise, dass ich mich zu ihm beugen musste. »Ich weiß, du bist es nicht gewöhnt, dass Leute nett zu dir sind. Aber früher warst du das einmal. Und trotz aller Geheimnisse, die du mit dir herumträgst und die deinen Blick auf dich selbst verfälschen, weißt du irgendwo in deinem Inneren, dass du Freundlichkeit verdient hast.«
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag.
Einen Moment lang gingen mir absurde Gedanken durch den Kopf. Ich sah mich auf einem Jahrmarkt, wo wir gemeinsam irgendwelche Spieße aßen; sah ihn und mich zusammen unter einem Baldachin von Bäumen entlanggehen, deren Blätter sich verfärbten; stellte mir ein Picknick an einem Bergbach vor; sah den Sonnenuntergang von einer Terrasse an einem Teich; sah die Sonne über dem roten Ziegeldach irgendeiner europäischen Stadt aufgehen. Ich wollte ihm Dinge erzählen; ihm erzählen, dass ich ein Jahr lang nicht gesprochen hatte, als ich in die erste Pflegefamilie kam; wollte ihm von Miss Melanie und den Durlings erzählen und wer Eve Brightman wirklich war. War. Ich spürte, wie mich eine ungeheure Sehnsucht überkam, aber nicht so wie sonst, vage und traurig. Diesmal war sie
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