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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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richtig rechnete – der zweite Gig im Nachtschicht an, darauf freute ich mich sogar. Das war aber auch der einzige Lichtblick. Gestern hatte ich auf einem Feuerwehrfest im Bierzelt aufgelegt, zwischen einer unglaublich schlechten Westerncombo und der örtlichen Blaskapelle. Während eines Zwischenstopps in Uelzen hatte ich mich inzwischen bei Karstadt mit Schlagersamplern eingedeckt. Ich hatte noch nie bei Karstadt Platten gekauft. Und die Verkäuferin wollte mich auch noch anmachen, indem sie mir erklärte, dass wir genau den gleichen Musikgeschmack hätten. Ich hatte sie nur müde angegrinst und geantwortet, dass das Geschenke für meine so gut wie tote Urur ur oma wären. Inzwischen benutzte ich die Platten bei fast jedem Auftritt. Jens und Ute waren keine Freunde der »Hitparade« und ähnlicher Veranstaltungen gewesen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich einige Texte fast auswendig. »Griechischer Wein«, »Sieben Fässer Wein« und all diese Sachen. Wein und Frauen namens Michaela. Darum ging es in Schlagern. Ich hasste sie.
»In einer Woche muss ich sowieso zurückkommen«, sagte ich.
»Keine gute Idee«, meinte Pepe. »Nimm ein bisschen Urlaub oder so. Dieser Pufftyp macht einen beharrlichen Eindruck.«
»Wie geht’s den anderen?«, fragte ich, weil mir keine Antwort einfiel.
Pepe schwieg einen Moment. »Osti ist abgetaucht, keine Ahnung, wohin. Neuner spielt ein Turnier in Bochum.«
»Aha.«
»Gönn dir ’ne Pause.«
»Mal sehen.«
Pepe legte auf, ich lauschte noch ein Weilchen dem Tuten. Vielleicht bildete ich mir das ein, aber es klang nach Berlin. Vor der Telefonzelle stand eine grauhaarige Frau in einer Kittelschürze, die eine Plastiktüte mit beiden Armen vor dem Bauch hielt und mich anstarrte, als wäre ich ihr im Krieg verschollener Sohn.
Die nächsten zwei Auftritte waren gruselig, ein weiteres Firmenjubiläum, danach ein Polterabend in einem Vereinsheim. Ich war längst zu geschafft und genervt, um irgendwas oder -jemanden wahrzunehmen, Frauen eingeschlossen, spulte mein Programm runter, ignorierte Anmachversuche, soff wie ein Wasserbüffel und redete kein Wort mit meinen jeweiligen Herbergseltern. Die Feiernden wurden sich immer ähnlicher, aber auch der äußere Vergleich fehlte mir; die Erinnerung an die Mucken in Berlin verblasste, mir kam das Zeit- und Ortsgefühl abhanden, ich schlug morgens – oder eigentlich mittags – vorsorglich in alle Richtungen nach dem Wecker, aß ausschließlich Wiener Schnitzel oder Kassler mit Salzkartoffeln, meistens an Autobahnraststätten, wofür ich extra auf die Autobahn fuhr, trank massenweise Kaffee und ließ das ohnehin quäkende Autoradio meistens ausgeschaltet. Ich konnte und wollte keine Musik mehr hören. Selbst die, die ich eigentlich mochte. Ich rauchte pausenlos, dachte an nichts und zwang meine Gedanken in eine andere Richtung, wenn sie eine bestimmte einschlugen. Ich fühlte mich sagenhaft einsam. Manchmal dachte ich daran, wo das alles hinführen sollte, jetzt und später, zündete mir dann eine weitere Zigarette an und versuchte zur Ablenkung, Formen im Rauch zu erkennen. Der Planet bestand nur aus mir. Die Gespräche mit den austauschbaren Typen, die ich traf, waren auf ein Minimum reduziert, ich bemühte mich, nicht unhöflich zu wirken, was mir nicht immer gelang, aber offenbar mit meinem Status entschuldigt wurde. Es war nicht so, dass ich schlechte Arbeit machte. Ich war nur nicht dabei. Morgens fiel ich wie tot ins Bett und träumte von nichts.
Und dann sah ich endlich die Baustoffhandlung wieder. Es war Freitagnachmittag; der Nieselregen, der mich während der letzten Tage begleitet hatte, hörte schlagartig auf, und ich beugte mich vor, um durch den grauweißen Film, den die abgenutzten Scheibenwischer des R4 auf der Windschutzscheibe hinterließen, einen Blick auf den wachsenden himmelblauen Fleck zu werfen, der sich direkt über mir auftat. Ich wertete das als Zeichen und bog lächelnd in die Parkinson-Straße nach Nieder-Sengricht ein.
Goerch begrüßte mich wie ein Familienmitglied, zog mich in den miefenden Laden und vollführte seinen Beck’s-Flaschen-Öffnungszauber. Dann setzte er sich neben mich, legte mir sein Ersatzrad auf die Schulter, lächelte mich an und schwieg. Ich süffelte mein Bier und genoss es. Einfach nur dasitzen, schlechte Luft einatmen, freundlich gesinnte Ruhe.
»Wir haben zum ersten Mal Vorverkauf gemacht«, sagte er nach einer Weile. »Schon irre. Ausverkauft.«
Ich sagte nichts, nickte nur.
»Was’n

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