Geisterflut
über den Boden verstreut.
»Mist.« Chess sah sich um. Es war immer noch niemand in Sicht, aber es kam ihr so vor, als würden die Stimmen lauter. Ertappt zu werden, wie sie hier in einem von ihr geknackten Aktenschrank herumsuchte, wäre schon schlimm genug gewesen, aber wenn sie auch noch Dinge aus Goody Tremmells Handtasche in den Händen hielte, egal, ob sie die gerade wieder hinein tun wollte oder nicht, würde das ihrem Anliegen nicht unbedingt weiterhelfen.
Sie sah sich kaum an, was sie hastig wieder in die Kunstledertasche beförderte: Lippenstifte, Schreibzeug, Taschentücher, der übliche Krimskrams aus der Handtasche einer Frau. Chess stopfte das alles wieder hinein, ohne auf irgendeine Reihenfolge zu achten, denn die Stimmen wurden nun eindeutig lauter, und jeden Moment konnten Goody Tremmell und der Älteste Griffin vor ihr stehen.
Ein Schlüsselbund mit einem Acrylglasblock dran, der ein witziges Katzenbild enthielt. Ha ha ha. Eine kleine, goldfarbene Scheibe mit dem Aufdruck »The Bankhead Spa« in hellblauer Emailleschrift -
Moment mal. Die Mortons waren doch in Bankhead Spa gewesen, nicht wahr? Schnell blätterte sie die Fotos noch einmal durch.
Ja. Das Kochbuch. Die Küche von Bankhead Spa. Ihr lief es eiskalt den Rücken runter, ein Gefühl wie bei ihrem allerersten Speed-Kick.
Sie schüttelte den Kopf. Goody Tremmell und die Mortons? Nein, das konnte nicht sein ... Oder? Oder doch. Goody Tremmell war im September eine Zeit lang fort gewesen, angeblich, um sich einem »kleinen chirurgischen Eingriff« zu unterziehen. Chess erinnerte sich noch so gut daran, weil der Älteste Waxman währenddessen die Zuteilung der Fälle übernommen und sich fortwährend lauthals über diesen Job beklagt hatte.
Wie um alles in der Welt sollte sich Goody Tremmell so einen Urlaub leisten können? Die Goodys verdienten beschissen, fast so mies wie Debunker, und bekamen nicht mal Boni. Bankhead Spa bot hohen Kirchenfunktionären zwar Sonderkonditionen, doch das betraf Leute wie den Großältesten oder den Sicherheits-Chef. Nicht die Goodys. Nicht mal normale Älteste.
Eine Schweißperle lief ihr die Wange hinab. Sie atmete tief durch und warf den Schlüsselbund mit dem Bankhead-Spa-Anhänger in die Handtasche. Ein Schlüsselbundanhänger bewies gar nichts. Doyle hatte bei dem Gray-Towers-Fall viel Geld verdient, und es konnte gut sein, dass er der Frau, der er diesen Job verdankte, etwas davon abgegeben hatte.
Also gut, weitersuchen. Selbst mit ihrem Verdacht gegen Doyle und selbst mit dem Schlüsselbundanhänger würde man sie im Büro des Großältesten doch einfach nur auslachen, wenn sie ihre Thesen über eine Verschwörung vortrug. Das waren keine Beweise, das waren weiter nichts als Mutmaßungen.
Doch es mochte Beweise geben. Beweise, die sie nutzen konnte. Chess fuhr mit den Fingerspitzen über den Teppichboden unter dem Drucker und zog ein Fünfzig-Cent-Stück und einen kleinen Ohrsteckerstift hervor. Sicherheitshalber versuchte sie es noch einmal und ertastete dabei noch etwas anderes: ein zusammengeknülltes Blatt Papier.
Das war doch bescheuert. Über den Drucker hinweg blickend, um sicherzugehen, dass sich noch niemand dem Raum genähert hatte, schob sie den Abfalleimer beiseite und fischte das Papierknäuel hervor. Es war wahrscheinlich nichts, was Goody Tremmell aus der Tasche gefallen war, aber die Art und Weise, wie es sich in ihrer Hand entfaltete, und der Umstand, dass es keinen Staub angesetzt hatte, machte sie neugierig.
Es war eine Quittung für einen Lagerraum. Ausgestellt auf den Namen Albert Morton.
Das gehörte zu ihrem Fall.
Es gehörte zu ihrem Fall, hatte sich aber nicht in der Fallakte befunden, und das bedeutete zweierlei. Erstens: Die Mortons hatten irgendwo einen Lagerraum gemietet, von dem sie Chess nichts erzählt hatten. Und zweitens: Goody Tremmell hatte aus irgendeinem Grund dafür gesorgt, dass diese Information nicht in Chess’ Hände gelangte.
Es konnte niemand anderes als Goody Tremmell dahinterstecken. Nachdem die Fälle vergeben waren, hatte niemand sonst Zugang zu diesen Akten. Sämtliche Ergänzungen wurden ihr übergeben, und sie ordnete sie eigenhändig ein. Die Ältesten hatten zwar Zugriff auf die ursprünglichen Fallberichte, aber die Informationen zu den Lebensumständen der Beschwerdeführer gingen ebenfalls direkt an Goody Tremmell. Sie öffnete die versiegelten Umschläge und nahm den Inhalt zu den Akten.
Sie ließ nie jemanden an ihren
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