Geisterflut
neuen Fall übernehmen sollte. Die vom Debunker gesammelten Informationen wurden in dieser Stammakte zusammengetragen, während der Debunker lediglich den ursprünglichen Fallbericht behielt. Das alles funktionierte bestens, zumindest in der Theorie. In der Praxis ... hakte es hier und da. Goody Tremmell war bekannt dafür, dass sie ihre Lieblinge bevorzugte. Daher hatte beispielsweise Doyle den Gray-Towers-Job bekommen, als laut Dienstplan eigentlich Briana Bryar dran gewesen war.
Andererseits war Chess auf eben diese Weise an die Morton-Akte gelangt, nicht wahr? Der Älteste Griffin hatte ihr die Sache anvertraut, ohne vorher nachzusehen, ob sie überhaupt dran war oder nicht.
Chess befeuchtete sich die Lippen, zückte den dünnsten Dietrich aus ihrem Etui und sah sich noch einmal um. Das hier war ernst, ernster, als kurz mal den Schlüssel zum Sonderarchiv zu mopsen oder sich auf der Treppe eine Nase Speed reinzuziehen. Das hier war eine Straftat. Und zwar eine schwere.
Mit verspannten Schultern schob sie den Dietrich ins Schloss. Diese paar Sekunden waren die schlimmsten, in denen sie jeden Moment damit rechnete, dass sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte oder irgendein Alarm losging und man sie auf frischer Tat ertappte.
Doch nichts geschah. Das Schloss sprang auf, die Schublade glitt heraus, und Chess nahm die Stammakte zum Fall Morton zur Hand. Sie begann sie durchzublättern. Sie war noch nicht mal dazu gekommen, sich die neulich nachts geschossenen Fotos näher anzusehen, weder bevor sie die Abzüge abgegeben hatte noch danach.
Der Fotostapel drohte aus der Akte zu rutschen, und daher machte sie auf Goody Tremmells Schreibtisch ein wenig Platz und legte ihn dort ab. Ihr zitterten ein wenig die Hände, als sie die Bilder durchblätterte. Das Wohnzimmer, die Küche ... die ganzen Plastikbehälter.
Das Treppenhaus: Familien- und Ahnenporträts. Chess hielt das Foto unters Licht. Fehlte da etwa ein Bild? Zwischen einem Babyporträt von Albert und einem Foto, das das Ehepaar Morton auf einer Party zeigte, erkannte Chess ein etwas helleres Rechteck an der Wand. Es war nur eine kleine Lücke, und es sah aus, als hätte man ein Bild von der Wand genommen und die beiden Nachbarbilder näher zusammengerückt, um die Leerstelle zu verbergen.
Sie legte das Foto beiseite. Weiter: Alberts Zimmer. Seine Porno-Sammlung. Diese kleine Drecksau ... Seine Elektrotechnik- und Film-Bücher, die Wände, der eigenartige Traumfänger hinter dem Bett...
Das war schon ein seltsamer Beutel, nicht wahr? Jedenfalls für einen normalen Traumfänger. Doch wenn er eigens dazu angefertigt war, etwas Bestimmtes abzuwehren? Einen Traumdieb beispielsweise, ein Wesen, das mächtiger war als ein normaler Geist? Sodass der Traumfänger mehr Geld kosten würde?
Sie zog ihren Notizblock hervor und blätterte zu der entsprechenden Seite zurück. Schwarzes Salz, eine Krähenkralle, ein rosafarbener, zusammengeknoteter Faden. Auf dem Foto jedoch erkannte sie, dass noch mehr in dem Beutel gesteckt hatte. Und zwar zweierlei: ein einzelnes schwarzes Haar und ein kleiner, fast unsichtbarer Kupfersplitter.
Der hatte im Blitzlicht aufgeleuchtet, daher bemerkte sie ihn jetzt erst. Weshalb es ihr damals vor Ort nicht aufgefallen war, lag auf der Hand: Als sie schließlich dazu gekommen war, diesen Traumfänger zu fotografieren, war sie schon schwer nervös gewesen und hatte nur noch dort weggewollt. Nach dieser Aufnahme folgte nur noch eine: eine ziemlich undeutliche von Alberts Nachttisch und dem Raum dahinter.
Doch dieser Kupfersplitter - das gleiche Metall wie bei dem Amulett! - und das schwarze Haar - das von keinem aus der Familie Morton stammen konnte - waren beide wichtig. Ebenso wichtig wie die Erkenntnis, dass das schwarze Haar in dem Traumfänger durchaus von Doyle stammen konnte.
Chess steckte das Foto vom Inhalt des Traumfängers und das von der Lücke zwischen den Bildern im Treppenhaus in ihre Tasche und schlug die Akte wieder zu. Der Traumfänger allein konnte ausreichen, um Doyles Verwicklung in die Sache zu beweisen. Zumindest konnte er, zusammen mit dem Indiz hinsichtlich des Amuletts, dafür sorgen, dass der Großälteste ihr zuhörte und sie ernst nahm.
Sie wandte sich um, wollte die Akte in den Schrank zurücklegen und wäre dabei fast gestolpert. Mit der Fußspitze war sie an etwas hängen geblieben, das ein leises Scheppern von sich gab. Es war Goody Tremmells Handtasche, die nun umgekippt dalag. Der Inhalt war
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