Geisterflut
Goody Tremmell ließ außer sich und hin und wieder einem Ältesten niemanden auch nur in deren Nähe, doch der Samstag war ihr freier Tag. Es kam Chess wie ein Vergehen vor, diesen Raum auch nur zu betreten.
Griffin öffnete mit einem reich verzierten Silberschlüssel eins der Schubfächer. Chess erwartete schon halb, dass eine Alarmanlage losgehen würde, doch der Älteste nahm einfach nur eine Akte heraus, gab sie ihr und schloss das Schubfach wieder zu. »Was ist denn mit deiner Hand geschehen?«
Die Wunde, die sie sich in der Nacht durch das Amulett zugezogen hatte, hatte am Morgen schlimm ausgesehen, rissig und gerötet. Darum der Mullverband. Chess schüttelte den Kopf. »Ob man’s glaubt oder nicht: Ich hab mir in die Hand geschnitten, als ich eine Dose Thunfisch aufmachen wollte.«
»Einer unserer Ärzte sollte sich das mal ansehen.«
»Es geht schon, danke. Ist nicht tief, ich wollte nur, dass kein Schmutz dran kommt.« In Wirklichkeit nahm sie an, dass sich die Wunde entzündet hatte. Die ganze Hand tat weh und pochte.
»Na ja, wenn du es dir anders überlegst, lass es mich wissen. Du könntest wahrscheinlich heute Abend noch dorthin.«
»Dorthin? Ach so, der Fall. Am Feiertag?«
»Geh nach Sonnenuntergang. Wir haben einen Dispens erlassen, um nach dem Fest den Rückstand aufzuholen.«
»Ah. Verstehe.« Es war jedes Jahr dasselbe. Das Fest, die Buß- und Trauerwoche, bedeutete viel Arbeit, Arbeit und schlaflose Nächte und noch einmal Arbeit. Tagsüber verbrachte man lange Stunden in der Kirche mit vielen Ritualen und nachts noch längere Stunden daheim, wo alle Türen und Fenster zum Schutz mit Blut und Kräutern versehen wurden und einem vor lauter Geisterenergie die ganze Zeit die Haut kribbelte. Sechs Nächte, in denen die Toten erneut auferstanden und in denen nur das Wissen und die Macht der Kirche die Menschen vor einem grausigen Tod bewahrten.
Es war schaurig, führte den Leuten aber vor Augen, wer letztlich das Sagen hatte. Nämlich nicht die Quantras mit ihren nutzlosen Protesten und auch nicht die PRA, die mit Kritik am Regierungsapparat der Kirche deren moralische Autorität infrage zu stellen versuchte. Auch nicht die Marenziten mit ihren ewigen Drohungen und nicht einmal die noch unheimlicheren Lamaru mit ihrer schwarzen Magie und ihren verzwickten Verschwörungen. All diese Gruppen wollten nur das Sagen haben.
Doch das hatte letztlich nur die Kirche. Und einmal im Jahr, vom 28. Oktober bis zum 3. November, führte sie das der ganzen Welt sehr eindringlich vor Augen.
Griffin lächelte. »Nimm das, und schau mal, was du in dieser Sache tun kannst. Viel Glück.«
Chess steckte den dünnen, braunen Umschlag in ihre Tasche, um sich später damit zu befassen, und folgte Griffin in den Hauptsaal des Tempels, wo der Älteste Murray soeben über die Bedeutung des Respekts sprach. Chess kannte diese Predigt bereits, nahm aber dennoch hinten im Saal Platz und achtete darauf, dass er sie bemerkte. Ja, sie achtete darauf, dass alle Anwesenden sie bemerkten. Dass sie außerhalb des kirchlichen Anwesens wohnte, trug ihr schon genug Argwohn ein, zumal in letzter Zeit. Da musste sie nicht auch noch dadurch auffallen, dass sie die Messe versäumte.
Apropos: Sie nahm sich vor nachzusehen, ob es irgendwelche Unterlagen über Chester Airport gab, ehe sie wieder ging.
Nun stand der Älteste Griffin in der Nähe des Podiums und nahm den Hut ab. Das bläuliche Licht im Saal gab seinem blonden Haar einen silbernen Schimmer. Das Weiß seiner Augen schwebte in dem schwarzen Make-up, das sie umgab. Chess neigte den Kopf.
»Ich brauche keinen Glauben.« Hunderte Stimmen erhoben sich und stimmten das Credo an, und Chess stellte sich vor, wie das jetzt auf der ganzen Welt geschah und alle wie mit einer Stimme sprachen. »Ich brauche keinen Glauben, denn ich kenne die Wahrheit. Ich bete zu keinem Gott. Gebete setzen Glauben voraus, und es gibt keine Götter. Es gibt einzig und allein die Energie, und das ist die Wahrheit. Die Kirche offenbart mir die Wahrheit und beschützt mich. Wenn ich diesen Wahrheiten treu bleibe, werde ich in die Stadt der Ewigkeit eingehen und dort bleiben für immerdar.«
Die letzten Worten hallten frohgemut und vertrauensvoll von den Wänden wider. Die Energie dieses Saales strich Chess über die Haut und wärmte sie, und sie wusste, dass es jedem Mitarbeiter der Kirche genauso erging. Eine Empfänglichkeit für derlei Dinge galt als erstes Anzeichen für eine besondere
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