Geisterflut
Begabung.
»Hab das mit den Sanfords gehört«, flüsterte jemand. »Pech gehabt, hm?«
Sie drehte sich um und sah wütend in Agnew Doyles grinsendes Gesicht. Das Grinsen wäre ihm wahrscheinlich vergangen, wenn sie ihm eine Ohrfeige verpasst hätte, doch dafür war das hier nicht der richtige Ort. Doyle hatte ihr schon genug Unannehmlichkeiten beschert, da musste sie nicht auch noch während der Messe einen Streit mit ihm anfangen.
»He, warte. Ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut, Chessie. Ich hab heute Morgen erfahren, dass es da tatsächlich gespukt hat, und da dachte ich -«
»Da dachtest du: Lass ich mir doch die ganze Geschichte erzählen, damit ich gleich noch ein bisschen was zum Weitertratschen habe?« Leute drängten sich an ihr vorbei zum Ausgang des Saales.
Die Messen waren meist recht kurz. Sie mussten auch nicht lang sein. Worauf es vor allem ankam, war das Durchziehen der Ausweiskarten, um seine Teilnahme nachzuweisen. Niemand war verpflichtet, zur Messe zu erscheinen, aber jeder wusste, dass die treuen Kirchgänger bessere Chancen hatten, gute Jobs zu ergattern und ihre Kinder auf guten Schulen unterzubringen. Die Vergünstigungen, welche die Kirche bot, kamen stets zuerst denen zugute, die gehorsam mitspielten.
Es wurde nicht zu Spenden aufgerufen, wie die alten Religionen das früher getan hatten. Die Kirche beschützte die Menschen, und die Menschen entrichteten ihre Steuern an die Kirche - es gab keine Mittelsmänner und auch keine Krittelei, wie mit den Steuermitteln verfahren wurde. Die Kirche verfuhr damit, wie sie es für richtig hielt, und wenn den Menschen das nicht passte, tja, dann gab es in der Stadt der Ewigkeit ganze Horden böser Geister, die nur darauf warteten, auf die Menschen losgelassen zu werden.
Vom praktischen Nutzen der Messe einmal abgesehen, galten die Geißelungen als der eigentliche Höhepunkt des Geschehens. Die wollte sich niemand entgehen lassen, und man musste an der Messe teilnehmen, um zu den Geißelungen zugelassen zu werden.
»Das ist nicht fair. Nur weil -«
»Weißt du, was nicht fair ist, Doyle? Dass deinetwegen jeder Zweite, mit dem ich zu tun habe, glaubt, ich wär ’ne Nutte: Das ist nicht fair. Und jetzt zisch ab.« Schon bei dem Gedanken, was die Leute über sie wussten, wollte sie im Boden versinken. Im Grunde hatten Doyle und sie gegen kein Gesetz verstoßen - sie waren beide volljährig und unverheiratet -, doch zu wissen, dass sich ihre Kollegen insgeheim ausmalten, wie sie ...
»Ich hab keinem was davon erzählt.« Er griff nach ihrem Arm und riss die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. »Irgendjemand hat es rausgefunden - mehr weiß ich auch nicht.«
»Na klar. Aber sicher doch. Die ganzen Spione, die sich in deinem Schlafzimmer verstecken.«
»Wieso sollte ich irgendwem was davon erzählen? Du bist schließlich nicht die Einzige, die die Leute jetzt schräg angucken. Irgendjemand muss -« Er sah sich in dem Saal um, der sich mittlerweile geleert hatte, und senkte die Stimme. »Irgendjemand muss uns gehört haben.«
»Na, dann hört uns ja wahrscheinlich auch jetzt jemand. Ich muss los. Ich hab zu tun.«
»Du kannst doch nicht schon wieder einen neuen Fall bekommen haben.«
»Doch, hab ich. Und im Gegensatz zu manchen anderen Leuten hab ich den bitter nötig. Wir kriegen nämlich nicht alle Gray Towers auf einem Silbertablett serviert.«
»Das war reines Glück.«
»Glück und eine in dich verknallte Goody, wolltest du wohl sagen.«
Gray Towers war eine Villa am Stadtrand, die in dem Ruf gestanden hatte, ein Spukhaus zu sein. Die Besitzer hatten diesen Ruf ausgeschlachtet, hatten Führungen veranstaltet und waren mit Stories über allerlei Vorkommnisse an die Presse gegangen - unheimliche Geräusche, Geistererscheinungen, sogar einen Geisterangriff sollte es gegeben haben —, was dazu führte, dass die Sache höchste Priorität bekam. Doyle hatte den Fall aufgeklärt. Angeblich hatte er dafür hunderttausend Dollar eingesackt - der höchste Bonus, der je einem Debunker gezahlt worden war, und mehr als das Zehnfache dessen, was bei einer normalen, einfachen Geistererscheinung fällig wurde. Etliche Kollegen waren deshalb stinksauer, nicht zuletzt Bree Bryan, die diesen Fall eigentlich hätte bekommen müssen, wenn es nach der normalen Reihenfolge gegangen wäre.
Doyle zog die Mundwinkel herab. »Wieso rede ich überhaupt mit dir darüber? Du glaubst mir ja sowieso nicht. Also, ich wünsche dir jedenfalls einen
Weitere Kostenlose Bücher