Geisterflut
sie alles bekommen, was sie wollte. Man würde sich ihrer annehmen, alle bösen Erinnerungen und Schmerzen tilgen, und sie wäre leicht und frei, wie von Luft erfüllt.
Sie sah Terrible. Seine Lippen bewegten sich, aber bei ihr kam kein Laut an. Sie hörte nur das Gewisper der Stimmen, hörte Worte, die sie nicht kannte und dennoch verstand. Sie riss den Mund auf, wollte schreien, doch statt ihrer Stimme drang etwas leuchtend Rotes heraus, ein luftiges Satinband, das sich in die Finsternis fortschlängelte. Sie konnte jetzt aufgeben, dann wäre alles vorbei. Der ganze Schmerz, das ganze Elend, all die Erinnerungen wie weggeblasen. Was sie all die Jahre mit den Drogen angestrebt hatte, war jetzt erreichbar: Sie konnte aufhören zu existieren und das Vergessen erlangen, das sie im Leben nicht fand.
Sie griff nach dem Metallstück. Ihre Finger schlossen sich um etwas Kaltes, Hartes, das ihr mit scharfer Kante in die Handfläche schnitt.
Sofort schoss ihr ein sengender Schmerz den Arm hinauf. Ihr Blut hatte das Metall aktiviert oder hatte es gespeist, wie auch immer; jedenfalls hatte sich die eiskalte Schwärze schlagartig in unerträgliche Hitze verwandelt.
Durch den Schleier ihrer Schmerzen nahm sie wahr, wie sie bei den Fußknöcheln gepackt und fortgezogen wurde. Sie war schon drauf und dran gewesen, ihre Beute wieder loszulassen, doch nun hielt sie sie umso fester, und der Schmerz wurde zum Segen, denn er hielt sie bei Bewusstsein, bis Terrible sie aus dem Zirkel herausgezogen hatte.
Mit einem Schlag konnte sie wieder sehen, wenn auch nur eine wirre Abfolge von Bildern. Terrible warf sie sich über die Schulter und lief mit ihr übers Flugfeld. Ihre Hand brannte, ihr Magen rebellierte. Ein spitzes Maschendrahtende ritzte ihr die Wange auf, als Terrible sich mit ihr durch das Loch im Zaun duckte, und fast wäre sie zu Boden gefallen, als er die Autotür aufriss, doch er fing sie auf und warf sie in den Wagen.
Das Radio plärrte los, und hinter ihnen spritzte der Kies hoch, als sie von dem Parkplatz wegrasten. Chess spähte in ihre leicht geöffnete Faust. Zwischen den Fingern tropfte das Blut auf die schwarze Jeans. Was sie in der Hand hielt, war ein Kupferamulett.
5
»Wer sich gegen ein Gesetz vergeht, vergeht sich letztlich
an sich selbst und macht sich dadurch unwürdig.
Die Tatsachen zeigen, dass Vergebung nichts Göttliches,
sondern etwas Menschliches ist. Vergebung muss
demzufolge von Menschen gewährt werden und durch
Erniedrigung und Strafe verdient sein.«
Das Buch der Wahrheit, »Regeln«, Artikel 30
Chess bekam eine Gänsehaut, wenn sie das Ding nur berührte. Dennoch wollte sie sehen, ob sie von den komplizierten Mustern am Rand etwas erkennen konnte. Waren das womöglich Runen? Man durfte sich Runen eigentlich nicht einprägen, denn sowie man sich darauf konzentrierte, um sie zu kopieren, entfalteten sie ihre Macht. Aber es war unmöglich, sich nicht an einige zu erinnern, und ein paar kamen ihr sogar bekannt vor. Die anderen Symbole mochten eigens erfunden sein, reine Platzhalter, die dazu dienten, einen Neugierigen, der über diese Kupfermünze gestolpert war, zu verwirren. Doch das glaubte sie eigentlich nicht. Dazu war das Amulett zu mächtig, und außerdem gab es zahlreiche magische Alphabete, deren Aneignung den Mitarbeitern der Kirche verboten war.
Edsel wusste vielleicht mehr darüber, doch zu dem konnte sie erst am Sonntag gehen. Morgen war Samstag, Feiertag, und sie würde diesen Tag größtenteils in der Kirche verbringen müssen.
Sie legte die Münze in die schwarze Schatulle in ihrem Bücherregal und sprach ein paar Macht-Worte, in der Hoffnung, das würde ausreichen. Normalerweise war sie von der Unberechenbarkeit der Magie fasziniert, aber in diesem Fall war das alles nicht mehr so witzig. Wer wusste schon, was für Energien sich in diesem Amulett manifestieren konnten und wie sie sich auf Chess und ihre Wohnung auswirken würden?
»Also gut«, sagte sie und drehte sich um. »Hat es aufgehört zu bluten?«
»Ja, scheint so.« Terrible nahm das dünne Handtuch von der Wunde an seinem Arm und betrachtete sie. Ein umgebogenes Drahtende des Zauns hatte ihm die Haut aufgerissen. »Das wird schon wieder, Chess. Mach dir keine Sorgen.«
»Lass mal sehn.« Die Blutung war tatsächlich gestoppt, aber der Riss sah tief und äußerst ungut aus. Terrible hatte ihr das Leben gerettet. Da konnte sie ihm zumindest ein bisschen Erste Hilfe leisten.
Ein noch fast volles Fläschchen
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