Geisterflut
Wand klemmte ein kleiner schwarzer Samtbeutel. Chess griff instinktiv danach, zog die Hand dann aber wieder zurück, da sie sicher war, dass er nichts Elektrisches enthielt. Es war ein magischer Beutel, ein Gris-Gris, und sie wollte ihn lieber nicht öffnen.
Sie fand ihn ungeheuer beunruhigend, obwohl man derlei Dinge in den meisten Häusern fand. Vielleicht war sie auch einfach nur übermüdet, und schließlich ging es ihr immer noch durch Mark und Bein, wenn sie an den Toten auf dem Flugplatz dachte, aber sie hatte das starke Gefühl, dass dieser Beutel kein gewöhnlicher Talisman oder Traumfänger war und auch keine legale Magie enthielt. Nicht mal eine Art Magie, die Mitarbeiter der Kirche wirken durften.
Sie stupste den Beutel mit der Stiefelspitze an. Als nichts passierte, wollte sie die Schnur aufziehen, die ihn zusammenhielt, doch das ging nicht. Wie sie feststellte, war die Schnur verknotet und mit Wachs versiegelt.
Sie zog Chirurgenhandschuhe an - nach dem Amulett ging sie kein Risiko mehr ein -, riss noch ein Streichholz an und stellte eine kleine Porzellantasse auf den Boden, um darin das geschmolzene Wachs aufzufangen. Albert murmelte etwas im Schlaf.
»Wie bitte, Albert?«, fragte sie leise.
»Ich wollte das nicht«, sagte er.
Chess sah ihn rasch an. Nein, er schlief.
»Das glaube ich dir, dass du das nicht wolltest«, erwiderte sie flüsternd und löschte das Zündholz. Das schwarze Wachs war größtenteils geschmolzen und in die Tasse getropft. »Erzähl mir doch einfach, wie es wirklich war.«
Er seufzte. »Ich hatte solchen Hunger, und ich hatte kein Geld dabei, und ich esse doch so gern Schokolade ...«
Na toll. Hatte er also in einem Laden in der Nähe seiner Schule einen Schokoriegel gemopst.
Er murmelte weiter vor sich hin. Chess öffnete derweil den Beutel, kippte den Inhalt auf eine Untertasse und machte schnell ein paar Fotos davon. Schwarzes Salz, eine Krähenkralle, ein rosafarbener, zusammengeknoteter Faden ... nichts Ungewöhnliches. Vielleicht etwas unkonventionell für einen Traumfänger, aber auf jeden Fall innerhalb der Grenzen des Legalen. Und eine Privatsache, die niemanden sonst betraf. Die Frage war bloß: Weshalb bekam sie eine Gänsehaut davon und hatte das Gefühl, dass sich jeden Augenblick etwas Großes, Schwarzes, Scharfes auf sie stürzen würde?
Mit zitternden Händen schoss sie noch schnell ein weiteres Foto, stopfte den Inhalt zurück in den Beutel, versiegelte ihn und klemmte ihn wieder hinters Bett. Sie wollte nur noch dort weg, wollte dringend raus aus diesem Haus, in dem es ihr mit einem Mal unerträglich warm vorkam und wo sie tausend Augen zu beobachten schienen.
Zum Beispiel die Augen der dunklen Kapuzengestalt, die durch die offenstehende Zimmertür zu ihr herübersah.
Chess sprang so hektisch auf, dass sie sich an der Kante des wackeligen Nachttischs das Knie stieß. Die Nachttischlampe fiel scheppernd zu Boden, während Chess sich in die nächste Ecke duckte und von dort zur Tür starrte.
Die Gestalt bestand aus Dunkelheit, so schien es, und in dem finsteren Türausschnitt waren die Umrisse ihres Gewands - oder was es auch war - nicht zu erkennen. Chess guckte angestrengt, sah aber nichts außer dem schmalen, bleichen Gesicht und den entsetzlichen dunklen Augen.
Die Gestalt lächelte und entblößte dabei scharfe, schmutzige Zähne — viel zu viele Zähne. Die schmale Hakennase hing ihr wie ein Stalaktit im Gesicht.
Es hätte ein zweidimensionales Bild sein sollen, ein Film, durch irgendein Loch in der Wand projiziert - wie sie angenommen hatte, als sie diese Gestalt das erste Mal sah. Doch das war keine Projektion, das wusste sie jetzt. Sie konnte dieses Wesen spüren, spürte das Fehlen jeglicher Menschlichkeit, jeglichen Gewissens, und es kroch ihr förmlich über die Haut und versuchte, in sie einzudringen.
Es streckte die Hand nach ihr aus, aber nicht bittend, sondern drohend. Gleich würde es auf sie losgehen, und es gäbe kein Entkommen.
Chess kam es ewig vor, wie es dort stand und mit seinem bohrenden Blick ihre Seele beschmutzte, doch es konnten nur ein paar Sekunden vergangen sein, als es sich plötzlich bewegte, so flink, dass Chess mit den Augen nicht folgen konnte. Es schien zu verschwinden, nur um erneut aufzutauchen, nun einen halben Meter näher.
Chess’ Beine versagten ihr den Dienst. Sie wollte aufspringen und wegrennen, aber sie bewegten sich einfach nicht, als hätten ihre Füße Wurzeln geschlagen.
Die Gestalt kam
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