Geisterflut
wiederum ein Stück näher, stand nun direkt neben Alberts Bett, während der Junge im Schlaf vor sich hin murmelte. Jetzt war auch die andere Hand des Wesens zu sehen. Es streckte sie ihr entgegen, mit gekrümmten Fingern, die ihr gleich den Hals zudrücken würden. Schon glaubte sie sie auf der Haut zu spüren und rang nach Luft. Dieses Wesen würde sie töten, und es gab keine Möglichkeit, dem noch zu entgehen. Schon gar nicht, wenn ihre verdammten Füße ihr nicht gehorchten.
Wieder eine Bewegung. Nun stand es in Alberts Bett, bis über die Knie darin versunken, als wäre es Treibsand. Noch eine Bewegung. Nun stand es in der Ecke. Im nächsten Augenblick schwebte es unter der Decke. Es spielte mit ihr, verwirrte sie, zwang sie, hektisch im Raum hin und her zu blicken, wenn sie es nicht aus den Augen verlieren wollte.
Sie spürte das Messer in der Hosentasche. Sie griff hinein und empfand einen schrecklichen Schmerz in der Handfläche. Erst da wurde ihr bewusst, dass ihr die Hand schon seit Minuten fürchterlich wehtat.
Als Waffe war das Messer nutzlos, doch es war ein gutes Gefühl, es in der Hand zu halten, als sie nun aus der Ecke hervorschlich.
Das Wesen verschwand erneut und tauchte wieder auf, diesmal direkt neben ihr, so nah, dass sie ein rotes Tröpfchen von der Spitze eines Eckzahns perlen sah. Chess schrie auf und fuchtelte mit dem Messer, doch es verschwand wieder und hinterließ nur einen eiskalten Lufthauch.
Sie fuhr herum und rannte zur Tür. Am Türrahmen stieß sie sich heftig die Schulter und sauste dann die Treppe hinab. Das Wesen konnte längst vor ihr auf der Treppe sein, es konnte überall sein. Die Dunkelheit war so vollkommen, dass Chess nicht sah, wohin sie lief; sie sah überhaupt nichts, aber sie spürte die Hände des Wesens im Nacken, als sie auf den letzten beiden Stufen stürzte und am Fuß der Treppe auf den Holzboden knallte.
Das Wesen war am anderen Ende des Raums. Es stand im Durchgang zur Küche. Es war überall in diesem Haus und in ihrem Kopf. Ihre Handfläche tat nun unerträglich weh. Ihre Schulter schmerzte, und auch die Knie, auf denen sie gelandet war. Egal. Sie musste raus, raus an die frische Luft, zurück in die Welt außerhalb dieses Spukhauses.
Erst als sie draußen auf der Straße hockte und sich die Tränen aus dem Gesicht strich, wurde ihr klar, dass sie die Hand im Haus gelassen hatte - die Hand und die Tasche mit ihrem ganzen Werkzeug.
14
»Dass es keine Götter gibt, ist eine Tatsache,
eine Wahrheit, die keines Glaubens bedarf.
Die Kirche bietet Schutz, und daher macht
die Kirche die Gesetze.«
Das Buch der Wahrheit, »Ursprünge«, Artikel 1641
Lex schob die Hände in die Hosentaschen und sah zum Haus der Mortons hoch. »Ich soll was da rausholen?«
»Eine Hand. Eine tote Hand. Sie liegt auf dem Fußboden in dem Schlafzimmer gleich rechts oben an der Treppe. Schnapp sie dir einfach und auch meine Tasche und bring sie raus, okay?«
»Ich weiß ja nicht, ob ich eine tote Hexenhand anfassen will. Nimm’s mir nicht übel, Tülpi.«
»Das ist keine Hexenhand. Es ist die Hand eines verurteilten Mörders, und sie ist ganz harmlos. Tust du mir nun diesen Gefallen, oder soll ich jemand anderen anrufen? Es bleibt nicht mehr viel Zeit, bis die Sonne aufgeht.«
Chess war überzeugt, dass er ihren Bluff durchschaute. Es gab niemanden, den sie anrufen konnte. Ihre einzigen Optionen waren Doyle und Lex gewesen, denn von Terrible hatte sie noch immer keine Telefonnummer. Es war ihr nicht schwer gefallen, sich für Lex zu entscheiden. Der würde die Sache mit ihrer lächerlichen Flucht aus dem Spukhaus wenigstens nicht überall herumerzählen. Sie tat Doyle damit womöglich Unrecht, aber das war ihr im Augenblick egal. Schon bei der Vorstellung, in dieses Haus zurückzukehren, hatte sie das Gefühl, sich gleich in die Hose zu machen.
»Also gut, was soll's.« Er musterte sie mit seinen dunklen Augen von Kopf bis Fuß - ihre schwarzen Jeans, das enge schwarze Top. »Aber dafür hab ich dann bei dir einen Wunsch frei.«
»Abgemacht. Hol einfach bloß meine Sachen raus, okay?«
Sie sah zu, wie er den Weg hinaufging und im Haus verschwand, halb überzeugt, dass er nicht wieder rauskommen würde. Jetzt wollte er auch noch eine Gegenleistung von ihr, und wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass sie damit gerechnet hatte, als sie ihn anrief.
Und das war eventuell sogar ihr Hauptgrund gewesen, ihn anzurufen. Der Gedanke behagte ihr nicht, aber so
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