Geisterflut
dort.
»Hast du da draußen irgendwas gesehen, Brain? Hast du gesehen, wie da irgendwas passiert ist?«
»Nein! Ich bin da nie gewesen. Ich war das erste Mal da, als wir uns da begegnet sind. Ich hab da nichts gesehen.« Er umklammerte angespannt seine Bierflasche.
»Mir kannst du’s doch sagen. Wenn du was gesehen hast, könnte das wichtig sein. Wirklich wichtig, verstehst du?« Sie hielt inne. »Ich wette, Bump wäre dir sehr dankbar, wenn du was gesehen hättest, das ihm helfen könnte, den Flugplatz wieder in Betrieb zu nehmen. Dabei könnte vielleicht sogar ein Job für dich rausspringen.«
»Terrible hasst mich.«
»Das stimmt doch nicht. Und selbst wenn ... Wenn du was beitragen würdest, würde er dich bestimmt super finden. Wär das nichts für dich? Für Bump arbeiten? Terrible zum Freund haben? Dann könntest du Hunchback ins Gesicht sagen, dass er dich mal am Arsch lecken kann, und er könnte nichts gegen dich unternehmen.«
Brains Furcht ließ etwas nach. »Meinst du echt?«
»Ja. Wenn du was weißt, Brain, solltest du es mir sagen. Es könnte wichtig sein. Und außerdem ... pass ich dann auf dich auf. Du könntest hier bleiben — so lange wie nötig.«
»Bei dir?« Sein hoffnungsvoller Gesichtsausdruck versetzte ihr einen Stich. Wie oft hatte sie als Kind davon geträumt, in Sicherheit zu leben, an einem Ort zu sein, wo ihr niemand etwas tat, oder sie hatte sich gewünscht, selbst so mächtig zu sein, dass ihr niemand mehr etwas tun konnte.
Das hatte sie nun erreicht. Sie war praktisch unangreifbar, dank ihrer Stellung bei der Kirche. Kein Wunder, dass er ausgerechnet zu ihr gekommen war.
»Ja, bei mir.«
»Echt wahr?«
»Echt wahr, Brain.«
Er seufzte. Es war ein langer, bebender Seufzer, der aus tiefstem Herzen zu kommen schien. Dann nickte er.
Chess nahm ihr Bier. »Prima! Gehn wir doch ins Wohnzimmer und setzen uns, und dann erzählst du mir alles, was du gesehen hast, okay?«
Das Klopfen an der Wohnungstür erschreckte sie beide. Chess hatte seit Monaten keinen Besuch mehr bekommen. Und nun kamen gleich zwei, und dann auch noch im Morgengrauen. Großartig.
Es war Doyle, und er hielt ihr eine weiße Papiertüte hin. »Ich hab dir was zum Frühstück mitgebracht.«
15
»Außer den Dienern der Kirche ist es niemandem gestattet,
sich magische Kräfte in die Haut stechen zu lassen.
Erlaubt sind nur rein dekorative Tätowierungen.«
Das Buch der Wahrheit, »Gesetze«, Artikel 420
Doyle deutete ihr Schweigen als Einverständnis und schob sich an ihr vorbei in die Wohnung. »Ich war wach und dachte, du bist bestimmt noch auf. Du warst doch heut Nacht im Haus der Mortons, nicht wahr? Und ich wollte auch mal nach deiner Hand sehen.«
Er legte die Tüte auf den Küchentresen und begann sie auszupacken. Sofort roch es in der ganzen Küche nach rohen Würstchen. Chess verging der letzte Rest Appetit.
Ihr erster Impuls war, ihn rauszuwerfen. Andererseits wollte Brain etwas essen. Wenn Doyle unbedingt jemanden verköstigen wollte, konnte er sich ja an dem Jungen austoben. So kriegte Brain etwas zwischen die Zähne, und anschließend konnte Doyle wieder abzischen, und sie würde sich anhören, was Brain zu erzählen hatte. Wenn Doyle das nicht passte, hatte er halt Pech gehabt. Was bildete er sich überhaupt ein, hier einfach so mir nichts, dir nichts aufzukreuzen?
»Wie bist du denn überhaupt ins Haus reingekommen?«
»Da ist gerade jemand rausgegangen.« Er sah sie an. »Ich stör dich doch nicht, oder?«
»Nein, es wär nur nett gewesen -«
»Chess?«
Brain stand mitten im Wohnzimmer, mit einem Mal noch blasser um die Nase. »Ich muss weg, Chess, tut mir leid, ich hab was vergessen, was ich noch erledigen sollte.«
»Aber es ist jede Menge zu futtern da, und anschließend können wir uns unterhalten.«
»Nein! Ich meine: Hey, danke für das Angebot, aber ein andermal.«
»Brain, warte!« Zu spät. Wenn der Junge wollte, war er verdammt schnell. Er war schon die Treppe runter, ehe sie auch nur in den Flur treten konnte, um ihn aufzuhalten. »Mist, verdammter.«
»Wer war denn das?«
Sie zuckte mit den Achseln. Jetzt musste sie mit Doyle allein sein. Mit Doyle und einem Riesenberg Essen. »Nur ein kleiner Junge. Er hat gesagt... Ach, egal, vergiss es.«
»Der sah aber ganz schön durcheinander aus.«
»Sein Chef hat ihn rausgeschmissen.«
»Und darüber wollte er reden? Wieso kommt er da zu dir?« Er suchte in ihren Küchenschränken und holte schließlich zwei von ihren
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