Geisterflut
denn nun? Sie sah auf den Zettel, den ihr Bump mit einem weiteren Tütchen gegeben hatte, und blickte zu den verblassten Hausnummern der leer stehenden Ladenzeile hoch. Nummer siebzehn. Ihr Ziel war noch einige Blocks entfernt.
Das war doch bescheuert! Eine bescheuerte Extratour bei einem bescheuerten Job, den sie dank des bescheuerten Lex gar nicht erledigen konnte.
Oder nicht nur dank des bescheuerten Lex. Was es auch war, das sie im Haus der Mortons gesehen hatte und von dem Doyle zufolge Mitarbeiter der Kirche belästigt wurden - sie kam allmählich zu der Ansicht, dass sie dem ohnehin nicht gewachsen war. Nicht wenn die vergangene Nacht ein Indikator war. Denn das war ja echt eine knallharte Kirchenhexe, die jemanden zu Hilfe rufen musste, damit er ihre Sachen aus einem Spukhaus herausholte.
Eine kleine Bande Halbstarker mit schwarzen Bandanas und hautengen Hosen kam die Straße herab auf sie zu. Sie fächerten vor ihr aus, als hätten sie irgendwas Fieses im Sinn. Was sie wahrscheinlich auch hatten. Ohne sie anzusehen, ließ Chess achselzuckend ihre alte graue Strickjacke von den Schultern gleiten und brachte ihre Tattoos zum Vorschein. Die Jungs rückten wieder eng zusammen. Sie hatten ja vielleicht keine Angst vor der Kirche, aber sie wussten natürlich, dass die einzige Kirchenhexe von Downside für Bump tätig war, und vor Bump hatte hier jeder Bammel.
Das hinderte sie nicht daran, obszöne Bemerkungen in ihre Richtung abzufeuern, aber die konnte sie ignorieren. Zu schade, dass sie nicht alles andere auch ignorieren konnte. Sonst wäre sie einfach daheim geblieben, hätte Platten gehört und sich die Birne zugedröhnt. Oder sie wäre ihrem eigentlichen Beruf nachgegangen. Sie hätte heute die Mortons befragen sollen, anstatt auf der Suche nach einem Tattoostudio durch die Straßen zu streifen, um anschließend einen bestimmten Jungen aufzuspüren.
Das Tattoostudio war immerhin leicht zu finden. Sie musste einfach nur so lange weitergehen, bis ihr der Geruch von Haarpomade der Marke Murrays in die Nase stieg, und dort dann links abbiegen.
»Ich suche Terrible«, sagte sie zu einem der Widerlinge, die den Eingang bewachten. Von drinnen hörte sie hastige Bewegungen, nicht gänzlich übertönt von der Sonics-Scheibe, die mit ordentlicher Lautstärke lief.
Der Typ blickte kaum von dem Fingernagel auf, an dem er mit einem Schnappmesser herummanikürte. »Ach ja? Und was willst du von ihm?«
»Etwas Geschäftliches.«
»Ey, Kleine, vor mir musst du doch keine Geheimnisse haben, ich bin doch -«
Terribles Stimme dröhnte nach draußen: »Hör auf, da rumzumachen, Rego, und lass sie rein!«
Rego blickte über die Schulter, dann wieder zu ihr zurück und sah sie jetzt erst richtig an. Sie hatte sich die Strickjacke noch nicht wieder über die Schultern gezogen, und als er ihre Haut sah, machte er große Augen.
»Ach du Scheiße. Du bist das ...«
Chess sagte nichts darauf. Sie ging an ihm vorbei durch den Laden und betrat den dahinter liegenden Raum. Einen Moment lang musste sie innehalten, damit sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnen konnten. Sie hatte mal wieder ihre Sonnenbrille verbaselt.
Es roch nach Antiseptika und Zigarettenqualm, nach Männerkörpern, Tinte und Öl. Große Bilder mit farbenprächtigen Zeichnungen bedeckten die Wände, bis auf eine verdächtig freie Stelle auf der Linken. Das erklärte die hektischen Bewegungen. Dieser Shop hatte illegale Tattoos im Angebot, mit magischen Symbolen, die einzig und allein die Kirche benutzen durfte — solche, wie Chess sie an Armen und Brust hatte. Andere Leute mochten sich ja auch so etwas tätowieren lassen, aber nicht an Stellen, wo man es sah; das wäre nämlich, als ob man darum bäte, ins Gefängnis zu kommen und ein Tete-à-Tete mit einer weißglühenden Eisenscheibe zu haben, die diese Tätowierungen ausbrannte. Chess zuckte gedanklich mit den Achseln. Das ging sie nichts an. Das war eine ganz andere Baustelle und eher Sache der Polizei.
Dieser Raum war gänzlich anders als jener, in dem sie damals ihre Tattoos bekommen hatte — im Zuge ihrer Ernennungszeremonie zur Debunkerin. Die Wände dort waren hellblau gewesen, und der Raum war kahl bis auf den Tisch und die Ausrüstung des Tätowierers. Ihre Mit-Initianden und die wenigen älteren Debunker, die daran teilnahmen, hatten kniend psalmodiert und den Raum so stark mit Energie erfüllt, dass sie geglaubt hatte, gleich ohnmächtig zu werden, und den Schmerz durch die Nadel und
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