Geisterflut
dass das nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte auch bei ihr keinen Grund gehabt anzunehmen, sie könnte um diese Uhrzeit wach sein, und war trotzdem gekommen, obwohl er dazu gut und gern zwanzig Blocks hatte zurücklegen müssen, zumindest nach dem, was er Freitagnacht über Hunchback und seinen Unterschlupf erzählt hatte. Das war in Downside nachts eine ziemlich lange und gefährliche Wanderung.
»Du kannst fürs Erste bleiben«, sagte sie und stellte ihre Tasche auf den Küchentresen. »Aber wirklich nur fürs Erste. Du ziehst hier nicht ein, klar?«
»Oh, vielen Dank, Chess, vielen Dank, du wirst gar nicht merken, dass ich hier bin.«
»Nein, das werde ich nicht, weil du gar nicht so lange hier sein wirst, dass ich das überhaupt merken könnte. Du kannst auf der Couch pennen. Und du rührst nichts an, klar?«
Er nickte.
»Und du erzählst auch niemandem davon. Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?«
»Das Schloss an der Hintertür ist lose.«
»Wie, >lose«
»Ich musste nur ’n bisschen dran rumspielen, schon war's auf.«
»Du bist also eingebrochen.«
»Hätt ich das nich machen sollen?«
Sie seufzte. Als wäre ihre finanzielle Situation nicht schon desaströs genug, musste sie nun auch noch die Reparatur dieses Schlosses bezahlen und dafür sorgen, dass alle im Haus neue Schlüssel bekamen. Die Hintertür ohne funktionierendes Schloss zu belassen kam nicht infrage.
Apropos ... Sie hatte ja immer ein paar Reservenägel da - gute, solide Eisennägel, die den zusätzlichen Nutzen boten, Geister abzuhalten. Damit konnte man die Tür zumindest provisorisch sichern. Im Falle eines Feueralarms wäre das natürlich nicht so der Bringer, aber ein Feuer war viel unwahrscheinlicher als ein Einbruch.
»Nein, das hättest du nicht tun sollen, aber nun ist es geschehen. Du kannst es wiedergutmachen, bevor du dich schlafen legst. Ich gebe dir ein paar Nägel und einen Hammer, damit du die Tür zunageln und das Schloss blockieren kannst.«
»Du hast nich zufällig was zu futtern da, oder? Ich hab schon voll den Krampf im Magen. Weiß gar nich, wann ich das letzte Mal was gegessen hab.«
Chess überhörte das und legte ein paar Nägel auf dem Küchentresen bereit. Der Anblick der Nagelspitzen erinnerte sie, dass sie ihre Schmiermittelspritze nachfüllen musste, und sie holte aus dem Schrank unter der Spüle die Flasche mit dem Öl hervor.
»Chess? Ich hab ʼn paar Dollar auf Tasche. Ich könnt was zur Haushaltskasse beitragen ...«
»Guck mal im Kühlschrank nach. Aber ich glaub, da ist nicht mehr viel.«
So war es tatsächlich, zu Brains Enttäuschung. Er starrte so eindringlich in den fast leeren Kühlschrank, als ließe sich mit der Kraft seines Blickes ein Vier-Gänge-Menü herbeizaubern. Als das nicht klappte, ließ er die Schultern hängen. »Kann ich ʼn Bier haben?«
Chess zuckte mit den Achseln. »Wenn du willst. Gib mir auch eins.« Hey, er war schließlich nicht ihr Kind, und höchstwahrscheinlich hatte er längst ganz andere Sachen ausprobiert, als ein oder zwei Bier zu trinken. Jeden Tag gingen Kinder an irgendeiner Überdosis drauf, und viele waren jünger als er.
Er reichte ihr ein Bier. »Darf ich dich was fragen?«
»Klar.«
Sie füllte die Spritze und auch eine Reservespritze nach und legte beide auf den Küchentresen. In ihrer Tasche herrschte das reinste Durcheinander, lauter magische und profane Gebrauchsgegenstände; sie musste sie dringend mal ausräumen. Warum nicht gleich? Irgendwie war ihr nämlich nicht danach, ins Wohnzimmer zu gehen und sich dort hinzusetzen. Vielleicht lag es an der unerwarteten Anwesenheit eines Kindes in ihrer Wohnung, oder vielleicht fürchtete sie auch einfach nur einzuschlafen, sobald sie sich hinsetzte.
»Wirst du versuchen, die Geister aus Chester zu vertreiben?«
»Wieso willst du das wissen?«
Brain lehnte sich an die Wand gegenüber und betrachtete den Fußboden. »Ich bin bloß neugierig. Interessiert mich halt, was du so machst. Das ist gute Magie, nicht wahr? Mit guter Magie vertreibt man die Geister.«
»Im Allgemeinen ja. Die Kirche betreibt keine schwarze Magie.«
»Aber du schon?«
»Was soll das heißen, Brain? Weißt du irgendwas über diesen Flugplatz?«
Er bekam große Augen. »Ich weiß nich, was du meinst. Ich bin bloß neugierig, weiter nichts.«
Das stimmte nicht. Er hatte doch in der Nacht auf dem Flugplatz gesagt, dass er schon öfter dort gewesen war. Es hatte fast geklungen, als wäre er ständig
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