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Geisterflut

Geisterflut

Titel: Geisterflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stacia Kane
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nicht erwartet hatte. Sie hatte völlig fasziniert den schweißglänzenden Armen des Grillmeisters zugesehen, die sich wie Motorkolben hin- und herbewegten, und hatte glatt vergessen auszusteigen. »Kennst du Brain? Einer von Hunchbacks Jungs?«
    »Ja, den kenn ich. Hab ihn auch heute schon gesehn, falls du das fragen willst. Sah völlig verängstigt aus. Er hat doch hoffentlich keinen Stunk mit dir?«
    »Nee, mit mir nich. Aber ich such ihn.«
    Der Grillmeister zuckte mit den Achseln. »Er ist da den Gang runter. Schätze mal zu Duck.« Sein Blick huschte über Chess’ Körper, dann sah er ihr wieder ins Gesicht, sagte aber nichts.
    »Danke.«
    Zum zweiten Mal an diesem Tag folgte sie Terrible eine Gasse hinab. Die erste war recht breit und sonnenüberflutet gewesen, in dieser dagegen war es so dunkel, als wäre es schon Abend. Sie zog sich ihre Strickjacke wieder an, guckte auf ihre Armbanduhr und sah zu ihrem Erstaunen, dass es schon fast sechs war. Kein Wunder, dass sie solchen Hunger hatte und sich so rastlos fühlte. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Pillendöschen.
    Terrible wartete, während sie eine Cept einwarf und mit einem Schluck Wasser hinunterspülte, und ging weiter, sobald sie den Verschluss wieder auf die Flasche schraubte.
    »Wird bald dunkel«, sagte er. »Wir sollten bis dahin wieder im Wagen sein.«
    »Wo sind wir hier überhaupt?«
    »In der Nähe von Chester, aber auf der anderen Seite. Da drüben ist der Hafen. Und nachts kommt da nichts Gutes her.«
    Sie schauderte. In der Gasse wurde es immer dunkler, je weiter sie kamen, als wagte die Sonne nicht hineinzuscheinen. Terrible bog am Ende der Gasse nach links in eine noch schmalere ab. Hier waren die Mauern mit Maschendraht überspannt und bestanden aus moderigem Gestein, und es stank wie in einem ausgebrannten Pissoir.
    Das Ende der Gasse war nicht zu sehen. Sie machte einen leichten Knick nach rechts, was den absurden Eindruck vermittelte, dass sie spitz zulief. Chess’ Magen war so leer, dass ihr der süße Frieden der Pille schnell ins Blut ging, doch ihre Nerven beruhigte das kaum. Da half es auch nichts, dass sie Terribles Hünengestalt gleich vor sich hatte. Hierher sollte Brain gegangen sein? In diese stinkende Finsternis sollte sich der magere, bleiche Junge ganz allein vorgewagt haben?
    Als sie jünger war, hatte sie oft gedacht, Kinder wie Brain hätten es besser als sie. Das dachte sie nun nicht mehr. Es waren zwei verschiedene Arten des Elends, die dennoch beide Elend blieben. Und wenn sie Orte wie diesen sah, kam sie ins Grübeln. Sie bezweifelte sehr, dass Brain sein zwölftes Lebensjahr erreicht hatte, ohne dass ihn einer körperlich missbraucht, ihm Knochen gebrochen und ihn unsagbar gedemütigt hatte. Ihr war es auch so ergangen, aber sie hatte meistens gewusst, von wem die Gefahr drohte.
    Wenn er doch bloß nicht aus ihrer Wohnung abgehauen wäre.
    Sie bogen noch einmal ab, diesmal nach rechts. Chess fragte sich allmählich, wann sie wieder aus diesem Labyrinth herauskommen würden. Hoffentlich schafften sie es noch vor Einbruch der Dunkelheit. Sie hatte ihr Messer dabei, und sie wusste, dass Terrible bis an die Zähne bewaffnet war, aber sonderlich sicher fühlte sie sich deswegen nicht.
    Schließlich kamen sie zu einer improvisierten Tür, einer verbeulten, angeknacksten Sperrholzplatte, die an Lederriemen vor einem Mauerloch hing. Terrible riss die Tür beiseite, und sie gingen hinein.
    Eine einzelne Kerzenflamme spendete Licht. Die blassen Strahlen der Abendsonne konnten den Schmutz und Ruß an den Fenstern kaum durchdringen. An einigen waren kleine Scheiben zerbrochen, doch das dort hereinfallende Licht wurde von der Düsterkeit des Raumes geschluckt, ehe es irgendeine Wirkung entfalten konnte.
    Das Lager war voller Menschen, sie standen an den Wänden und hockten auf dem Boden, junge wie alte, und alle waren mit Lumpen bekleidet und in schmutzstarrende Decken gehüllt.
    »Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte herrisch eine Stimme, und als Chess sich zu dem Sprecher umdrehte, stand ein kleiner Mann vor ihr, der eine eigene Kerze in der Hand hielt. Ihr Licht ließ seine dunklen Gesichtszüge schimmern wie Mahagoni. »Muss echt nicht sein, dass Bump mir irgendwelche Leute schickt.«
    »Kennst du Brain?«
    Der Mann - Duck? - zuckte mit keiner Wimper. »Sagt mir nichts.«
    Terrible zuckte ebenfalls mit keiner Wimper, hob vielmehr die Hände, die Handflächen nach vorn. »Ich will keinem was tun. Der Kleine steckt

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