Geisterflut
verstehe nicht, wieso Sie all diese Fragen stellen«, sagte Mrs. Morton nun schon zum dritten oder vierten Mal. »Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Bitte, wann können Sie uns endlich davon befreien?«
»Wir arbeiten dran. Haben Sie mal überlegt, vorübergehend woanders unterzukommen? Bei Freunden vielleicht oder in einem Hotel?«
»Ein Hotel können wir uns nicht leisten«, fauchte Mrs. Morton. »Ich meine: Wochenlang in einem Hotel zu wohnen, das wäre doch sehr teuer.«
Chess pflichtete ihr nicht bei und machte sich auch keine Notiz, denn sie hatte sich gut zurechtgelegt, was sie darauf sagen würde. »Aus den Unterlagen, die Sie uns übergeben haben, ist ersichtlich, dass Ihnen auf Ihren Kreditkarten noch ein Kreditrahmen von etwa zehntausend Dollar zur Verfügung steht. Da könnten Sie es sich doch sicherlich leisten, mal für eine Weile in ein Hotel zu ziehen, nicht wahr? Nach der Austreibung würde Ihnen die Kirche diese Kosten selbstverständlich erstatten.«
Sie sagte das tatsächlich im Brustton der Überzeugung und nicht, als hätte sie kurz vorher herausgefunden, dass einer ihrer Kirchenkollegen illegale Magie betrieb, um ein Wesen herbeizubeschwören, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Ein Wesen, das nach Bosheit stank wie ein toter Hund auf der Straße nach Verwesung.
Und apropos Verwesung: Das Bild von Slipknots verwesendem Leichnam ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Was diese Seele erleiden musste, während sie eingesperrt war in der stinkenden Hülle, die einst ein lebendiger Leib gewesen war - es war nicht auszudenken. Und sie war verantwortlich dafür, denn sie hatte noch immer nicht herausgefunden, wie man diese Seele befreien konnte.
Sie hatte ohnehin schon das Gefühl, dass sie es kaum verdient hatte zu leben - auch ohne dass sie diese Scheiße auf dem Gewissen hatte.
Wie konnte es sein, dass einer ihrer Kollegen so etwas tat? Seit sie den Strand verlassen hatte, grübelte sie über illegale Tätowierungen nach und über die Möglichkeit, dass der Schuldige einem Kirchenmitarbeiter vielleicht sehr ähnlich sehen könnte.
Doch nein. Tyson wusste, wen er gesehen hatte, und konnte echte und nachgemachte Kirchen-Tattoos unterscheiden. Tätowiert wie du, hatte er gesagt, und das konnte nur bedeuten, dass es eine echte Kirchentätowierung gewesen war.
Sie hoffte, dass er gelogen hatte. Und sie durfte nicht ausschließen, dass er die Wahrheit sagte.
»Ja, aber wir bleiben doch lieber in unserem Haus und lassen das schnell beseitigen, statt die Unbequemlichkeiten eines Hotel auf uns zu nehmen«, sagte Mr. Morton. Chess brauchte eine Sekunde, bis ihr wieder einfiel, worüber sie überhaupt sprachen.
»Haben die Vorkommnisse sich denn verschlimmert? Das letzte Mal sagten Sie, Mrs. Morton, es sei nur eine graue, geschlechtslose Gestalt gewesen. Hat es mittlerweile konkretere Formen angenommen? Hat es angefangen, Gegenstände zu bewegen? Irgend so was?«
»Es ist jetzt nicht mehr grau.« Mrs. Morton nestelte an ihrer Perlenkette, als wäre sie viel zu eng und raubte ihr die Luft. »Sondern schwarz. Es ist ein Mann in einem schwarzen Kapuzengewand. Er ... er beobachtet uns, während wir zu schlafen versuchen, und schleicht sich in unsere Träume ... Er macht mir Angst.«
Sie begann hemmungslos zu schluchzen, und Chess’ Herz raste.
21
»Und so entdeckten sie die Hohlräume unter der Erde
und stellten fest, dass die Macht dort noch stärker war als
die Macht der Geister, und sie sandten ihre Wächter und
Botschafter an die Oberfläche und brachten die Geister in
ihre neue Heimat und sperrten sie dort ein.«
Das Buch der Wahrheit, »Ursprünge«, Artikel 400
Sie wollte nicht nach Hause. Nicht nach dem Einbruch - war das wirklich erst einen Tag her? Ja, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, die Nacht ganz allein zu verbringen. Nicht, da sie nun wusste, dass der, der hinter ihr her war, sie kannte und seit Jahren mit ihr zusammenarbeitete.
Tyson hätte auch gelogen haben können, doch im Grunde ihres Herzens wusste Chess, dass dem nicht so war. Das war so sicher wie die Wahrheit der Kirche, und in dieser Situation, trotz all ihrer Zweifel, war die Kirche der einzig sichere Ort. So spät abends war das Gebäude fast menschenleer und niemand mehr in der großen Bibliothek - zu der sie einen Schlüssel besaß. Sie konnte Nachforschungen anstellen und versuchen, sich darüber klar zu werden, was das alles zu bedeuten hatte. Sie konnte auch einfach nur dort sitzen und
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