Geisterflut
normale Geister buchstäblich in den Wahnsinn.
Sie würde dem Großältesten das Amulett vorlegen und ihm erzählen, was geschehen war. Aber nein, das konnte sie nicht tun. Denn dann müsste sie auch gestehen, dass sie auf dem Flugplatz Chester gewesen war, dort eine Leiche gefunden und dies nicht gemeldet hatte. Das Amulett erklärte jedem, der es entziffern konnte, klipp und klar, was diesen Zauber antrieb.
Würde dieser Zauber also, wenn man Slipknots Seele befreite, automatisch ein Ende nehmen und Ereshdiran wieder dorthin zurückschicken, wo er hingehörte? Oder würde sich der Zauber anschließend, wie sie es ursprünglich befürchtet hatte, von ihr speisen? Sie hatte dem Amulett schließlich von ihrem Blut gegeben ... und es hatte als Gegenleistung dafür diverse kleine Andenken in ihrem Fleisch hinterlassen, nicht wahr?
Ihr taten die Finger weh. Sie blickte hin und sah, dass sie den Kuli völlig verkrampft hielt. Es war nicht der allerbeste Moment, um über derlei Dinge nachzugrübeln, sondern vielmehr der richtige Zeitpunkt, um schleunigst aus der Bibliothek zu verschwinden, ehe sich derjenige da draußen noch eindringlicher bemerkbar machte.
Der Nebenausgang war wahrscheinlich geeigneter. Sie konnte nicht sicher sein, meinte aber, dass die Geräusche aus der Richtung des Haupteingangs gekommen waren.
Okay. Sie nahm ihre Tasche, legte sie auf den Tisch und schob Notizblock und Stift hinein, während sie so tat, als würde sie darin etwas suchen. Sie würde das Licht im Sonderarchiv nicht abschalten können, ohne zugleich darauf aufmerksam zu machen, dass sie gehen wollte, und damit hätte sie das Überraschungsmoment aus der Hand gegeben. »Element of Surprise«, Überraschungsmoment, war ihr immer als richtig guter Bandname erschienen. Das war jetzt wahrscheinlich auch nicht der richtige Moment für derlei Gedanken, doch ihr Hirn ratterte in dreifachem Tempo vor sich hin, und sie kam kaum noch nach.
Parole also: Beiläufig, beschäftigt, nichts bemerkend. Sie stellte die Tasche neben sich auf den Boden und schlang sich den Gurt unterm Tisch um die Hand. Mit der freien Linken blätterte sie weiter in dem Buch, um damit einigermaßen zu verschleiern, wonach sie gesucht hatte.
Wieder war ein Schritt zu hören, diesmal näher. Der ganze Körper tat ihr weh; ihre Muskeln waren so angespannt, beinahe verwunderlich, dass sie noch durchblutet wurden. Nun kamen sie - oder er oder es, was auch immer. Und während Chess durch die Scheiben nichts sah, hätte über ihr ebenso gut ein Neonpfeil hängen können. Sie musste dort weg. Sie war so dumm gewesen, so unvorsichtig und dumm.
Ihr zitterten die Beine. Los! Worauf wartest du noch? Steh endlich auf.
Vorsichtig schob sie den Stuhl zurück, wobei sie weiterhin den Blick auf das Buch gerichtet hielt, so als suchte sie lediglich nach einer bequemeren Sitzposition. Sie beobachteten sie, das war ihr klar. Sie konnte sie nicht sehen, sah sie aber doch: große, schwarze, gesichtslose Gestalten, die sich in schweren Stiefeln mit ausgestreckten Armen auf sie zubewegten, um sie zu ergreifen, sie zu würgen, ihr ein Messer in den Hals zu rammen -
Los!
Diesmal hörte sie auf ihre innere Stimme und glitt vom Stuhl. Wenn sie Glück hatte - ha ha, sehr witzig, sie und Glück haben! -, dachten die anderen vielleicht, sie würde am Boden nach etwas suchen oder sich am Fuß kratzen.
Doch wahrscheinlich dachten sie auch, dass dies der beste Augenblick zum Angriff war, weil sie gerade nicht hinsah. Mit eingezogenem Kopf und tief geduckt huschte sie über den Boden. Die fünf Meter bis zur Tür waren ihr nie so weit erschienen; jetzt jedoch kam sie sich vor wie ein Käfer bei der Überquerung eines Hockeyfeldes.
Endlich an der Tür angelangt, richtete sie sich auf und lief los. Sofort wurde ihr klar, dass ihr Täuschungsmanöver nichts gebracht hatte. Der sie belauert hatte, war ebenfalls losgelaufen. Chess hörte die näher kommenden Schritte.
Sie riss ihr Messer aus der Tasche, obschon sie nicht glaubte, dass sie eine Chance bekommen würde, es zu nutzen. Es gab ihr nur ein besseres Gefühl, so als könnte sie sich auch in so ein Stück Stahl verwandeln. Sie rannte, so schnell sie konnte, auf nichts achtend außer auf den Seitenausgang direkt voraus.
Sie rauschte hindurch und wäre dabei fast gestürzt. Die baufällige Wendeltreppe schepperte unter ihren Füßen, und ihre Tasche schlug ihr gegen die Beine, dass sie bei jedem Schritt darüber zu stolpern drohte.
Halb die
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