Geisterflut
spürte aber seine Gegenwart, wie sie auch einen Geist gespürt hätte, wenn hier einer aufgetaucht wäre. Bisher war keiner aufgetaucht. Sie wusste nicht, wie lange das so bleiben würde.
Da der Zug nun keinen Strom mehr hatte, hätte sie eigentlich schnurstracks über das Gleis gehen können, ohne sich Sorgen wegen der Stromschiene zu machen, doch da sie nicht so drauf stand, irgendwelche Risiken einzugehen, grub sie mit der linken Hand in ihrer Tasche, bis sie ihr elektrisches Messgerät fand und warf dann das Kabel über das Gleisbett hinweg - zumindest hoffte sie das. Das Gerät zeigte nichts an. Aber dennoch ...
Sie schlang sich die Tasche auf den Rücken und hielt den Stift wie eine Wünschelrute vor sich. Er war nicht toll, funktionierte aber. Sie sprang von der Bahnsteigkante aufs Gleisbett hinab. Ihr Aufprall hallte in der ganzen Station wider.
Während sie den Stift hin und her schwenkte, ging sie langsam einen Schritt nach dem andern. Trotz der Kälte lief ihr der Schweiß von der Stirn. Hinter ihr konnte alles Mögliche sein, eiskalte Hände, die sich gleich um ihren Hals legten ...
Sie richtete sich ruckartig auf und drehte den Kopf nach allen Seiten, obwohl sie gar nichts sehen konnte.
»Also gut, Chess, jetzt reiß dich endlich mal zusammen«, sagte sie laut und bereute es sogleich, als ihre Worte durch die Stille hallten und dadurch alles noch dunkler, einsamer und feindseliger wirkte.
Sei doch nicht so ein Weichei! Sie zwang sich, den Stift vor sich hin und her schwenkend weiterzugehen und dabei das Kribbeln im Nacken zu ignorieren. Es war direkt hinter ihr, sie wusste es ...
Der Stift berührte die erste Schiene. Gut. Sie stieg vorsichtig darüber hinweg und setzte ihren Weg fort. Vielleicht lauerte ihr etwas auf der anderen Seite auf, wartete darauf, dass sie ihm in die Falle ging. Dann würden sich kalte, spindeldürre Arme um sie schließen und alles Leben aus ihr herauspressen ...
Verdammt noch mal! Sie würde die ganze Nacht auf diesem Gleisbett zubringen, wenn sie nicht endlich ihren Mut zusammennahm und zu der Tür auf der anderen Seite gelangte. Wieso war sie bloß so ein Feigling, wieso konnte sie nicht einfach -
Terrible hielt sie für tapfer. Das fiel ihr jetzt ein. Es klang ihr noch im Ohr, wie er ihr das gesagt hatte. Die machen sich alle in die Hose. Bloß du nich. Terrible hielt sie für tapfer, und wenn er das meinte - ein Mann, der doch wohl nach Iwan dem Schrecklichen benannt war und dem alle Welt geflissentlich aus dem Wege ging -, dann musste es ja wohl stimmen. Sie konnte und würde das hinkriegen.
Schritt für Schritt wagte sie sich über das Gleisbett voran. Die zweite Schiene, dann die dritte, dann zog sie sich auf die Bahnsteigkante hoch und ging zu der Wand, tastete mit ausgestreckten Händen, bis sie schließlich bei der Metalltür anlangte und mit den Fingerspitzen über die glatte, lackierte Oberfläche fuhr. Sie fand das Schloss und zückte ihre Dietriche.
Sie hatte noch nie in vollkommener Dunkelheit ein Schloss geknackt, aber auch noch nie in vollkommener Stille. Jedes einzelne Klicken klang hier viel lauter als sonst und half ihr, sich den Schließmechanismus bildlich vorzustellen. Gut so, gut so ... Mist. Der Dietrich rutschte ab, und das Schloss schnappte wieder zu.
Und irgendetwas wisperte da im Tunnel.
Die Geister waren eigentlich nicht in der Lage, die Stadt der Ewigkeit zu verlassen und hierher vorzudringen; die Stadttore waren aus Eisen und fest verschlossen. Aber der hier war offenbar herausgeschlüpft, ehe sie geschlossen wurden, oder er war überhaupt nie drin gewesen.
Ihr kam eine dritte Möglichkeit in den Sinn, nämlich dass ihr Verfolger unten gewesen war und sich an den Stadttoren zu schaffen gemacht hatte - sodass noch weitere Geister hier herumspukten -, doch den Gedanken verbannte sie ganz schnell aus ihrem Kopf. Denn wenn sie sich jetzt ausmalte, dass hier Geister und Lamaru in der Dunkelheit auf sie lauerten, würde sie sich nicht mehr von der Stelle rühren können. Ihre Nackenhaare hatten sich aufgestellt, und sie hatte Gänsehaut auf den Armen.
Sie atmete tief durch. Versuchs noch mal. Schieb den Dietrich rein und achte gar nicht drauf, dass das Wispern lauter wird. Es wird dir in den Tunnel folgen. Ein Mörder könnte dir auch in den Tunnel folgen. Falls diese Tür überhaupt in einen Tunnel führt. Gar nicht dran denken. Knack jetzt einfach nur das Schloss. Dann kannst du dir überlegen, was du als Nächstes machst. Gut so,
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