Geisterflut
sie in den Tunneln gesehen hatte, als Drohung zu verstehen? Oder sorgte er sich wirklich um sie? Oder wollte er damit die Verantwortung für die Toten da unten von sich weisen? Sollte es eine subtile Botschaft sein, ihr suggerieren, dass er kein Mörder sei? Das wäre amüsant, denn selbstverständlich war er das, und das war ihr auch schon klar gewesen, bevor sie mit angesehen hatte, wie er in ihrer Küche einem Mann einen Dolch in den Hals rammte. Er brachte genauso Leute um wie Terrible und Bump und Slobag - auch wenn sie übrigens immer noch nicht wusste, was Lex eigentlich für Slobag tat. Wenn sie bedachte, dass Slobag angeblich genauso blutgierig war wie Bump, wenn nicht noch blutgieriger ...
Es würde ihr wahrscheinlich schwerfallen, in ganz Downside mehr als eine Handvoll Menschen aufzutreiben, die noch nie eine Seele vorzeitig in die Stadt der Ewigkeit befördert hatten. Und das wäre eine Gruppe, der sie nun nicht mehr angehörte - nicht nach dem Einbruch und der Sache mit der Schmiermittelspritze.
Sie stellte das Wasser ab und begann sich abzutrocknen. Die einzigen Kleidungsstücke, die sie zur Verfügung hatte, waren ihr Slip und das Dead-Kennedys- T-Shirt, das man ihr als Nachthemd übergezogen hatte. Es gehörte vermutlich Lex, und als sie nun erneut hineinschlüpfte, hatte sie das Gefühl, damit gewissermaßen in etwas einzuwilligen.
Als ihr Blick dann in den Spiegel fiel, hätte sie fast losgeschrien. Ihre Nase und ihr linkes Auge waren verfärbt und geschwollen. Die Schmerzen waren dank der Pillen und der Dusche ein wenig gedämpft, aber im Hintergrund weiter vorhanden, eine beständige Erinnerung an ihre Auseinandersetzung mit Doyle. Als ob sie das gebraucht hätte.
Sie putzte sich die Zähne, benutzte ein Deo und eine Feuchtigkeitscreme und öffnete dann die Badezimmertür. »Hey, Lex, wo sind denn eigentlich meine Klamotten?«
Er saß auf dem Fußende des Betts und stützte sich zurückgelehnt auf die gestreckten Arme, sodass sich sein langer, drahtiger Oberkörper unter dem T-Shirt abzeichnete. »Die hab ich waschen lassen. Müssten bald fertig sein.«
»Dann sitze ich also hier fest, bis meine Sachen trocken sind?«
»Tja, meine Jeans sind dir wahrscheinlich ‘ne Nummer zu groß, oder?«
»Wie lange?«
»Dreißig Minuten. Höchstens ’ne Stunde. Was meinst du, wie sollen wir uns solange die Zeit vertreiben?« Er hatte die Augenbrauen gehoben, und sein Blick richtete sich auf ihre nackten Schenkel unter dem Saum seines T-Shirts. Chess blickte mit ebenso freimütiger Miene zurück.
Er war nun wirklich kein netter Mensch, aber andererseits war niemand nett, den sie kannte. Er hatte sie entführt und verhöhnt. Aber er hatte ihr auch geholfen: in der Nacht, als er in ihrer Wohnung den Lamaru tötete und - was irgendwie sogar noch wichtiger war -, als er zum Haus der Mortons kam, um ihre Hand zu bergen.
Sie hegte kein sonderlich großes Interesse an ihm, mochte ihn aber durchaus und fand ihn auf alle Fälle sexy und attraktiv. Er war jedoch niemand, mit dem sie sich vorstellen konnte, jemals eine ernsthafte Beziehung einzugehen, und das war gut so. Wenn sie irgendetwas für ihn empfunden hätte, wahres Vertrauen, wahre Zuneigung, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, dass aus ihnen beiden tatsächlich etwas werden könnte, wäre sie gar nicht imstande gewesen zu überlegen, ob sie ihm geben sollte, was er so offenkundig von ihr wollte. Doch was da zwischen ihnen war, beruhte lediglich auf gegenseitiger Anziehung und rudimentärem Vertrauen, und wenn sie ihn nach dieser ganzen Sache nie wiedersehen würde, würde sie ihm keine Träne nachweinen. Was ihn gegenwärtig fast zum perfekten Lover machte.
Zudem war sie in den vergangenen Tagen so viele Male beinah ums Leben gekommen, dass sie längst nicht mehr mitzählte, und ihre Chancen standen ausgezeichnet, in den kommenden Tagen tatsächlich den Löffel abzugeben. Also: Warum nicht?
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Hast du ’ne Idee?«
»Ja.« Er setzte sich auf und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Du könntest mir dein Tulpen-Tattoo zeigen.«
25
»Wenn jemand erst einmal begonnen hat, gegen Gesetze
zu verstoßen, wird er damit fortfahren, bis er eine Strafe
erhält und seine Seele somit gereinigt wird. Deshalb gilt es,
die Nachbarn und den Freundeskreis ebenso im Blick zu
behalten wie die Mitglieder der eigenen Familie, um sie alle
davor zu bewahren, sich selbst zu Fall zu bringen ...«
Familie und Wahrheit, eine
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