Geisterkrieg
Sessel neben dem Kamin hob ein zur Hälfte mit bernsteingelber Flüssigkeit gefülltes Kristallglas. »Und ich zu deiner. Du hattest schon immer einen guten Geschmack bei Whiskey. Jetzt steh schon auf, Junge. Ich würde ja selbst aufstehen, dich zu begrüßen, aber mir gefällt's hier.«
Ich stand wie befohlen auf und musste lächeln. Victor Steiner-Da-vion war körperlich kein großer Mann. Genau genommen war er sogar ziemlich klein, aber seine Persönlichkeit füllte den Raum. Als mein Blick seine ruhigen grauen Augen traf, sah ich wildes Leben in ihnen lodern. Sein weißes Haar und der Bart waren kurz gestutzt, und die Hand, in der er das Glas hielt, war ruhig wie ein Fels. Er sah noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte - so, wie ich ihn seit jeher kannte.
Dann bemerkte ich den Gehstock neben dem Sessel. Den benutzte er, seit er vor mehreren Jahren ein künstliches Hüftgelenk erhalten hatte. Er hatte sich mit voller Kraft in die Rehabilitation gestürzt und den Stock an seinem hundertsten Geburtstag wieder aufgegeben. Dass er ihn jetzt wieder brauchte, war kein gutes Zeichen. Ich bemerkte auch ein leichtes Hängen der Schultern und die tiefen Falten um seine Augen.
Allmählich sah man ihm sein Alter an.
Victor Steiner-Davion ist ein Mensch, den man entweder liebt oder hasst, und eine Menge Leute lieben es, ihn zu hassen. Unmittelbar vor dem Aufbruch nach Helen hatte ich Gus Michaels' Biographie gelesen, Victor Ian Steiner-Davion: Ein Leben. Das Buch war ziemlich gut und zeichnete ein überzeugendes Bild des Mannes, der als Thronerbe des mächtigsten Nachfolgerstaates geboren worden war und mit ansehen musste, wie sein Reich zerfiel. Von außen angegrif-fen durch die Clans und im Innern verraten von seiner Familie, hatte er erlebt, wie die Nation, die sein Vater mit Kriegen und Bündnissen aufgebaut hatte, in sich zusammenfiel. Er hatte den Mord an seiner ersten und größten Liebe, Omi Kurita, den Tod seines Sohnes Burton und den Tod seiner zweiten Liebe, Isis Marik, erleben müssen.
Ich hatte ihn kurz nach deren Ableben kennen gelernt, als ich noch kaum mehr als ein Kind gewesen war, aber ich hatte keine Ahnung von der tragischen Last auf seinen Schultern gehabt. Natürlich hatte ich gewusst, wer er war. Ich meine, sein Name hatte mir etwas gesagt. Was mich betraf, war er nur ein alter Knacker gewesen, und erst als er eine alte Münze aus der Tasche gezogen und mir gestattet hatte, das Profil darauf mit seinem zu vergleichen, hatte ich es geglaubt. Damals war er noch voll bei Kräften gewesen, und bis jetzt hatte ich nicht geglaubt, daran könnte sich jemals etwas ändern.
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Sessel an der anderen Seite des Kamins. Auf dem Beistelltisch daneben wartete ein zweites Glas Whiskey. »Bitte, fühl dich wie zu Hause.«
Ich schmunzelte über den Witz, und er schmunzelte ebenfalls, was meine Stimmung wieder hob. Ich setzte mich und nahm das Glas: »Auf Ihre Gesundheit.«
»Was noch davon übrig ist.« Wir tranken, dann lehnte er sich schwer auf die lederne Armlehne des Sessels. »Ich bin ein erschreckender Anblick, ich weiß. Du überspielst es besser als jeder andere. Sie befürchten alle, ich würde im nächsten Augenblick den Löffel abgeben. Aber das werde ich nicht. Das verspreche ich dir.«
»Ich will hoffen, Sie halten dieses Versprechen, mein Fürst.«
»Das werde ich.« Seine Augen funkelten. »Ich habe deinen Bericht über die Lage auf Helen gelesen. Woher kommt diese Neigung, deine Berichte wie Krimis abzufassen?«
Ich wurde rot. »All das staubtrockene >Das Subjekt tat dies und das< ist doch sterbenslangweilig. Es vermittelt nichts davon, was ich da draußen erlebe. Ich werde losgeschickt, um zu infiltrieren und verdeckt zu agieren, und das geht weder klinisch noch präzise vor sich. Es ist dreckig. Ich bin ziemlich sicher: Hector und Pep verlassen sich höchst ungern auf mich.«
»Da hast du vermutlich Recht«, seufzte er. »Ich habe den letzten Teil des Berichts gelöscht und ihn dann nach Zürich weitergeleitet. Er endet jetzt mit dem Verlassen des ZVET-Gewahrsams.«
»Ja, mein Fürst.«
Er nippte an dem irischen Whiskey, lächelte und schaute mich wieder an. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass es dir nicht behagt, wie sich die Situation auf Helen aufgelöst hat. Ich habe Lady Lakewoods erste Anfragen, dich zurückholen zu dürfen, abgelehnt, aber jetzt brauche ich dich hier, so lange es geht. Auf Helen waren deine Talente
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