Geisterlicht: Roman (German Edition)
der bleigrauen Wasseroberfläche um ihr Leben kämpfte oder vielleicht schon tot war, verstärkte die Übelkeit, die Aidan in Magen und Kehle brannte. Hastig begann er, an dem regennassen Felsen hinaufzuklettern. Wenn er die Stelle finden wollte, wo sie ins Wasser eingetaucht war, musste er von dort oben in den See springen, so wie sie es getan hatte.
Seine Schuhe mit den glatten Sohlen waren vollkommen ungeeignet zum Klettern, und auch mit den Händen rutschte er mehrmals von der glitschigen Oberfläche ab. Doch er kümmerte sich nicht darum, dass seine Hose zerriss und er die Haut seines Schienbeins abschürfte. Verbissen zog er sich immer weiter nach oben, obwohl sich alles um ihn drehte und das Schwindelgefühl immer stärker wurde. Die Ärzte hatten ihn eindringlich vor jeder Anstrengung gewarnt, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.
Mit zusammengebissenen Zähnen brachte Aidan irgendwie das letzte Stück bis zur Spitze hinter sich. Endlich war er oben, richtete sich auf und ließ erneut seinen Blick über die Wasseroberfläche wandern. Nichts. Ihm war bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit, dort unten zufällig auf Fiona zu stoßen, gleich null war. Und doch musste er es versuchen. Er musste alles tun, was in seiner Macht stand, weil er schon den bloßen Gedanken, diese Frau zu verlieren, nicht ertragen konnte.
»Fiona«, rief er mit lauter Stimme über den See. »Ich liebe dich!«
Die Worte kamen völlig selbstverständlich aus seinem Mund. Und Aidan wusste, sie waren wahr. Plötzlich war jeder Zweifel verschwunden. Er begriff nicht einmal mehr, weshalb er jemals daran gezweifelt hatte, dass er Fiona lieben konnte. Er schwankte auf dem kleinen Felsplateau, das kaum genug Platz für seine Füße bot. Das Schwindelgefühl wurde immer stärker, doch er kümmerte sich nicht darum, hob die Arme und stürzte sich kopfüber ins Wasser.
Der eisige See nahm ihn auf wie einen guten Freund. Benommen tauchte er unter die Oberfläche, teilte das Wasser mit seinen Händen, wandte den Kopf hin und her, wechselte die Richtung und wusste, dass es sinnlos war. Wusste, er würde im Loch Sinclair sterben. Der Gedanke, dass Fiona und er beide leblos in diesem nassen, kalten Grab liegen würden, erschien ihm dabei seltsam tröstlich.
Keuchend tauchte er wieder auf, erstaunt, dass er noch einmal an die Oberfläche kam. Um ihn herum war alles grau und verschwommen. Er konnte kaum noch etwas sehen. Dunkle Schlieren trübten seinen Blick und seine Benommenheit war nun so stark, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Eines aber wusste er: Er musste wieder nach unten. So tief und so lange es ging. Um Fiona zu suchen und zu finden. Um sie zu retten oder sie wenigstens sterbend in seinen Armen zu halten.
Aidan atmete tief ein und wollte gerade wieder unter die Oberfläche tauchen, als er in einiger Entfernung etwas rot Leuchtendes bemerkte. Blind bewegte er sich darauf zu, streckte die Arme aus und krallte sich mit den Fingern in das vor seinen Augen verschwimmende Rot. Es war der Stoff von Fionas Jacke, und für einen kurzen Moment erhaschte er einen Blick in ihr Gesicht. Weiß hob es sich vom Bleigrau des Wassers ab. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen halb geöffnet.
»Fiona«, keuchte er mit letzter Kraft. »Ich liebe dich. Du darfst nicht sterben! Ich will mit dir zusammen sein. Für immer.«
Ob sie ihn hören konnte? Es war so wichtig, dass sie endlich erfuhr, was er für sie fühlte. Verzweifelt zerrte Aidan an ihrem Arm, wollte sie an sich ziehen und ans Ufer bringen, doch seine Glieder waren schwer wie Blei, so schwer, dass er das Gefühl hatte, sie würden ihn auf den Grund des Sees ziehen. Um ihn schien sich alles zu drehen. Der Himmel und das Wasser verliefen ineinander, der Felsen war in einem Moment über und im nächsten Augenblick unter ihm. Er konnte die Augen nicht mehr offen halten, sein Kopf sank in den Nacken, Wasser drang ihm in Mund und Nase. Dann wurde alles um ihn herum dunkel, doch kurz bevor er das Bewusstsein verlor, spürte er noch, wie ihn etwas trug und hielt. Ihn und Fiona.
Das Wasser wiegte sie beide sanft. Und plötzlich hatte er keine Angst mehr und auch nicht das Bedürfnis zu kämpfen. Alles war gut, so wie es war.
»Fiona! Aidan!«
Wie aus weiter Ferne hörte Fiona die Stimme ihrer Schwester. Sie wollte die Augen öffnen, doch ihre Lider waren wie zugenäht. Sie spürte, dass Wasser über ihr Gesicht rann. Aber sie konnte atmen. Und sie lag auf einem beruhigend
Weitere Kostenlose Bücher