Geisterlicht: Roman (German Edition)
murmelte er vor sich hin und sprang dann so hastig aus seinem Sessel auf, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Als er seine Umgebung wieder wahrnahm, drehte sich alles um ihn, und er musste sich an der Fensterscheibe abstützen. Endlich konnte er wieder klar sehen und stellte fest, dass Fiona inzwischen schon die Hälfte des Weges zu dem kleinen Plateau oben auf dem Felsen hinter sich gebracht hatte. Sie kletterte geschickt und mutig.
Als Junge war Aidan selbst oft dort hinaufgeklettert. Manchmal hatte er in Erwägung gezogen, von ganz oben in den See zu springen, der an dieser Stelle besonders tief war. Aber seine Mutter hatte ihm praktisch jedes Mal, wenn er zum Spielen an den See ging, verboten, von dort oben ins Wasser zu springen. Nicht, dass er sich stets an die Verbote seiner Mutter gehalten hätte. Aber der Felsen war hoch, und er war nur ein kleiner Junge gewesen, den regelmäßig der Mut verließ, wenn er auf die glatte blaue Fläche hinabschaute, die sich tief unter ihm ausbreitete.
Jetzt stand Fiona dort oben und blickte auf den Loch Sinclair hinunter. Wollte sie etwa die schöne Aussicht genießen? Das hätte sie vom Turmfenster aus, durch das sie vor kaum einer Stunde geschaut hatte, mindestens ebenso gut tun können. Jetzt beugte sie sich vor und schaute nach unten. Sie wollte doch nicht wirklich …
Entsetzt trommelte Aidan mit beiden Händen an die Fensterscheibe. Doch Fiona reagiert nicht, sondern stand bewegungslos da und sah weiter starr in den See. Nun begann es, ganz sachte zu regnen. Die Tropfen zeichneten zahllose kleine Kreise auf die glatte Oberfläche des blaugrauen Wassers. Fiona legte den Kopf in den Nacken, als wollte sie den Regen auf ihrem Gesicht spüren. Dann machte sie einen Schritt nach vorne ins Nichts und stürzte in den See.
Mit einem Aufschrei wandte Aidan sich vom Fenster ab und lief zur Tür. Ihm war schwindelig und übel – wegen seiner Kopfverletzung, aber auch aus Angst um Fiona. Doch er kümmerte sich nicht darum, dass um ihn herum alles schwankte und er kaum noch Luft bekam. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Turmtreppe hinab und flehte dabei stumm den Himmel an, dass er nicht zu spät kam, um Fiona zu retten.
Dawn saß an dem kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer und versuchte, sich auf die Korrektur der Diktathefte vor ihr zu konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften allerdings immer wieder ab, und die meiste Zeit starrte sie einfach aus dem Fenster in den Himmel. Am Morgen war das Wetter klar und trocken gewesen, doch inzwischen verdüsterten graue Wolken den Himmel, und jetzt begann es, leicht zu regnen.
Als Lillybeth draußen auf dem Fensterbrett landete, ihr glänzendes Gefieder ausschüttelte und laut krächzte, richtete Dawn sich erstaunt auf. Sie öffnete das Fenster und ließ die Räbin herein. Doch Lillybeth hüpfte nicht wie sonst ins Zimmer, sondern lief aufgeregt auf dem äußeren Sims hin und her, schlug mit den Flügeln und stieß dabei hohe, schrille Töne aus.
»Was ist los? Geht es um Fiona? Ist sie schon wieder in Gefahr?«
Am See. Am tiefen See. Der Felsen. Er ist so hoch.
Lillybeth spreizte die Flügel und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Warum sagt sie mir eigentlich nie vorher, was sie plant?«, murmelte Dawn vor sich hin, während sie zur Tür eilte. »Das würde die Sache erheblich vereinfachen! Jetzt kann ich wieder auf dem Fahrrad losstrampeln.«
Indem sie vor sich hin schimpfte, gelang es ihr besser, ihre Angst um Fiona zu kontrollieren. Dennoch zitterten ihre Hände, als sie die Haustür hinter sich ins Schloss zog.
Als sie aus dem Haus kam, wartete Lillybeth schon auf dem Baum vor dem Schuppen. Dawn zerrte das Fahrrad heraus und schwang sich auf den Sattel. Inzwischen regnete es gleichmäßig und stetig, und sie war innerhalb weniger Minuten durchnässt. Doch sie kümmerte sich nicht darum. Die Angst um ihre Schwester und die Anstrengung beim Radfahren sorgten dafür, dass ihr schnell mehr als warm wurde.
Während Fiona hoch oben auf dem Felsen stand und hinunter auf den Loch Sinclair schaute, dessen unergründliche Tiefe sie sich nicht vorzustellen wagte, tobte in ihrem Inneren ein so heftiger Kampf, dass es sie fast zerriss. Da waren die Liebe, die Sehnsucht, der Mut und der Wille, um ihr Glück und für Aidan zu kämpfen, auf der anderen Seite aber auch die entsetzliche Angst, die in ihr aufstieg wie eine eiskalte Welle und all die warmen Gefühle zu ertränken drohte.
Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer
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