Geisterlicht: Roman (German Edition)
wollte nicht, dass Dawn sie fand.
Gegen zehn Uhr hatte sie bei der Polizei angerufen, doch dort hatte man ihr gesagt, sie solle sich wieder melden, wenn ihre Schwester nach vierundzwanzig Stunden noch nicht wieder aufgetaucht sei. Schließlich sei Fiona erwachsen und da sei es keine Katastrophe, wenn jemand sich um ein oder zwei Stunden verspäte.
Es musste aber etwas passiert sein, sonst wäre Fiona nicht so lange ausgeblieben, da war sich Dawn ganz sicher. Seltsamerweise war auch Lillybeth inzwischen verschwunden, obwohl sie Dawn nach dem Unterricht nach Hause begleitet hatte.
Wenn Dawn ihr Auto gehabt hätte, hätte sie ein bisschen in der Gegend herumfahren und ihre Schwester suchen können. Sie hätte Aidan fragen können, ob er Fiona gesehen hatte, und ganz sicher hätte er ihr bei der weiteren Suche geholfen. Zum ersten Mal bedauerte Dawn, dass Aidan sich nicht endlich einen Telefonanschluss auf die Burg legen ließ, obwohl er dann natürlich keinen Grund mehr gehabt hätte, so häufig bei ihr vorbeizuschauen.
Dawn riss das Fenster auf. Sie brauchte frische Luft! Mit geschlossenen Augen horchte sie in sich hinein. Wenn Fiona in Gefahr wäre, würde sie sicher versuchen, ihr eine Nachricht zu senden. Doch da war nichts als undurchdringliche Stille in ihr. Als über ihr die Luft rauschte, öffnete sie erleichtert die Augen.
»Lillybeth! Wo warst du denn? Weiß du, wo Fiona ist?«
Die Räbin landete auf dem Fensterbrett, legte den Kopf schief und schaute Dawn aus ihren funkelnden schwarzen Knopfaugen an.
Schwer zu finden. Schwer zu merken. Sie versucht mich zu hindern. Sie löscht meine Erinnerung.
»Catriona?«, fragte Dawn, obwohl sie bereits wusste, wen Lillybeth meinte.
Der Vogel bewegte in der Imitation eines Nickens den Kopf auf und ab und flatterte dabei mit den Flügeln.
»Du musst dich erinnern!«, beschwor Dawn die Räbin. »Wo ist Fiona? Wo kommst du her? Wo warst du eben?«
Komm mit. Ich versuche es zu finden. Mach schnell, sonst ist mein Kopf wieder leer.
Hastig schlüpfte Dawn in ihre Jacke, stopfte eine Taschenlampe und den Haustürschlüssel in die Tasche, zog ihre Schuhe an und rannte in den kleinen Schuppen neben dem Haus, wo ihr Fahrrad stand. Dabei hoffte sie inständig, dass Fiona nicht allzu weit mit dem Auto gefahren war.
Lillybeth wartete auf dem Baum neben der Haustür auf sie, und als Dawn sich auf den Sattel schwang, flog sie los. Ihr schwarzer Schatten verschmolz mit dem Dunkel der Nacht, aber sie stieß ab und zu einen leisen, hohen Ton aus, damit Dawn wusste, dass sie noch über ihr war. Natürlich kam sie auf dem Fahrrad längst nicht so schnell voran wie die Räbin, aber Lillybeth flog zwischendurch Kreise über ihrem Kopf, manchmal so tief, dass sie sie fast mit den Flügeln berührte. Oder sie wartete auf einem der Bäume am Straßenrand und flog erst weiter, wenn das Fahrrad auf einer Höhe mit dem Ast war, auf dem sie saß.
So kamen sie langsam, aber stetig vorwärts. Lillybeth führte sie in Richtung Sinclair Castle und durch Dawns Kopf huschte der bange Gedanke, ob Fiona sie nicht einfach nur vergessen hatte, weil sie gerade Aidans Gesellschaft in vollen Zügen genoss. Neulich hatte Aidan ihre Schwester auf eine Art angesehen, wie er sie, Dawn, noch nie angeschaut hatte, das war ihr nicht entgangen, aber sie hatte versucht, sich nichts dabei zu denken. Schließlich war Fiona ihre Schwester, und es war nur gut, wenn Aidan sich mit ihr verstand.
Rasch verdrängte Dawn ihre eifersüchtigen Gedanken. Sie hatte genug damit zu tun, sich gegen den Wind voranzukämpfen. Es war noch ein weiter Weg bis zur Burg. Falls das überhaupt Lillybeths Ziel war.
Fiona hatte das Gefühl, schon endlos viele Stunden in die Dunkelheit zu starren und auf das erste Licht des Morgens zu warten, während Aidan neben ihr schlief. Wenn ihre Unruhe zu groß wurde, zählte sie seine Atemzüge. Zwischendurch musste sie immer wieder daran denken, dass in dem Bett, in dem sie nun mit Aidan lag, vor vielen Jahren Catriona und Arthur einander geliebt hatten. Dieser Gedanke ließ ein Kribbeln in ihrem Körper aufsteigen. Von den Zehenspitzen wanderte es langsam nach oben, als würde jemand mit einer Feder ganz zart ihre Haut kitzeln, an einigen Stellen verharren und sich dann weiter gemächlich in Richtung Kopf vorarbeiten.
Catriona und Arthur, Fiona und Aidan. Sie ähnelte Catriona wie eine Zwillingsschwester. Und Aidan war Arthur wie aus dem Gesicht geschnitten. Ob das etwas zu bedeuten hatte?
Weitere Kostenlose Bücher