Geisterreigen
sie deutlich Annies Teehaus erkennen. Flüchtig dachte sie daran, wie sie dort auf der Terrasse Timothy zum ersten Mal gesehen hatte. Schon damals war er ihr sympathisch gewesen.
"Timothy", sagte sie leise vor sich hin. "Timothy." Sein Name klang fast wie Musik.
Plötzlich spürte sie, daß sie nicht mehr alleine am Strand war. Vorsichtig drehte sie sich um und erstarrte. Nur zwei Meter von ihr entfernt stand ein riesiger Hund. Aus großen, braunen Augen sah er sie an. Diana schluckte. Unwillkürlich griff sie sich an den Hals. Ihr Erlebnis mit dem Marder, oder was immer es auch gew esen sein mochte, hatte sich ihr schmerzhaft eingeprägt.
Schwanzwedelnd machte der Hund einige Schritte auf sie zu. Dann setzte er sich auf seine Hinterbeine und streckte ihr die rechte Pfote entgegen.
Diana wollte ihn nicht beachten, wollte sich unauffällig zurückziehen, aber sie brachte es nicht fertig. Von diesem Hund schien keine Bedrohung auszugehen. Zögernd ergriff sie seine Pfote. "Wo kommst du denn her?" fragte sie und erkannte dann, daß er sich scheinbar schon seit Tagen, wenn nicht gar seit Wochen draußen herumgetrieben haben mußte. Er wirkte irgendwie verwahrlost.
"Wuw", machte er und leckte ihr über die Hand.
"So etwas mag ich nicht", sagte Diana, aber sie mußte lachen. "Du bist mir vielleicht einer." Sie kraulte seinen Nacken. "Wenn du meinst... Oh, was hast du denn da gemacht?" Betroffen blickte sie auf eine verkrustete Schnittwunde. "Halt mal still", befahl sie und schob vorsichtig das dichte Fell etwas beiseite. "Das sieht aber gar nicht schön aus."
Der Hund rieb seinen Kopf an ihrem Arm.
"Ich glaube, du magst mich", sagte sie und untersuchte, ob er noch weitere Wunden hatte. "Sieht aus, als wolltest du, daß ich mich in Zukunft um dich kümmere." Ihre Finger fuhren sanft durch das schmutzige Fell. "Du wirst Hunger und Durst haben, aber das muß noch etwas warten. Wir gehen jetzt am Strand entlang nach Alberry. Ich habe dort einen Freund. Er ist Tierarzt. Er wird sich deine Verletzung ansehen. Vermutlich muß sie genäht werden."
Der Hund sprang auf.
"Du scheinst jedes Wort zu verstehen", meinte die junge Frau verwundert. "Du..."
"Er wird dich beschützen."
Diana fuhr herum. "Lucy?" fragte sie unsicher. Sie war sich ganz sicher, daß sie gerade Lucys Stimme gehört hatte.
Der Hund schmiegte sich erneut an sie.
"Das ist ja verrückt", flüsterte sie und blickte zweifelnd auf ihn hinunter. Lucys Stimme klang noch immer in ihr nach, aber wie sollte ihr ein kleines Mädchen, das vor über zweihundert Jahren gestorben war, einen Hund schicken können? Sie ließ ihre Finger durch das Fell des Bernhardiners gleiten. "Komm, auf nach Alberry. Mal sehen, was Timothy zu dir sagt."
Dr. Lansing verband gerade einen kleinen Kater, als ihm seine Sprechstundenhilfe meldete, daß Miß Rowland mit einem Ber nhardiner im Wartezimmer saß.
"Das Tier sieht aus, als hätte es in der letzten Zeit kaum eine anständige Mahlzeit erhalten", fügte sie hinzu. "So etwas von verwahrlost habe ich schon lange nicht mehr zu Gesicht beko mmen."
Ob es sich um den Bernhardiner handelte, den Lucy Cook am Vortag gefunden hatte? "Ich bin gleich fertig", sagte Timothy und widmete sich wieder dem Kater. "Das nächste Mal paß auf, wo du hintrittst, Harold", ermahnte er ihn. "So ein Pfötchen ist viel zu schade, um es sich zu zerschneiden."
"Ich möchte wissen, wo Harold seine Augen hat", klagte die alte Dame, der der Kater gehörte. "Ständig kommt er mit einer anderen Verletzung nach Hause." Sie steckte den sich sträubenden Kater in seinen Transportkäfig, dann bedankte sie sich bei Timothy und verließ die Praxis durch die Hintertür.
Die Sprechstundenhilfe bat Diana herein. "Brauchen Sie mich, Doktor Lansing?" fragte sie mit deutl ichem Spott in der Stimme.
"Nein, danke, Miß Even." Dr. Lansing reichte Diana flüchtig die Hand, dann beugte er sich zu dem Hund hinunter, der sich brav neben die junge Frau gesetzt hatte. "Sieht aus, wärst du der Bu rsche, der gestern das Gartenhäuschen der Cooks durch das geschlossene Fenster verlassen hat", bemerkte er und betrachtete die Wunde.
"Das Gartenhäuschen der Cooks?" fragte Diana neugierig.
"Ja." Timothy erzählte ihr, wo Lucy den Bernhardiner gefunden hatte. "Ich möchte nur wissen, weshalb er aus dem Gartenhäuschen abgehauen ist. Dort hatte er Futter und Wasser, zudem ein breites Sofa, um sich auszuruhen." Er strich dem Hund sanft über den Rücken.
"Er hat sich am Strand
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