Geisterstadt
ihnen gespielt und dann die Lust verloren; hier ein Bein, dort ein Arm, ein Oberkörper, ein Kopf ...
Ihr Magen rebellierte erneut. Sie schluckte panisch, krampfhaft, und drängte den sauren Speichel zurück, der mit einem Mal ihren Mund füllte. Zu viel, das war einfach viel zu viel, wohin sie auch blickte, sah sie ein starres, leeres Auge oder ein schrecklich scharfes weißes Knochenstück, das aus welkem Fleisch hervorragte ...
Terribles Hand, fest und warm in ihrem Nacken, zog sie auf den Treppenabsatz. Dort stand ein Fenster offen, ein nacktes Loch in der rauchgeschwärzten Wand; er stieß ihren Kopf hindurch und schob sie mit Gewalt an die kühle, frische Luft. Sie füllte ihre Lungen, hörte sie wie Blasebälge in der Brust pumpen. Sie blinzelte panisch, während sie versuchte, die tanzenden Punkte zu vertreiben, die ihr die Sicht nahmen.
Langsam kam sie wieder zu sich. Ihr Kopf war klar genug, um festzustellen, dass sie nicht allein auf dem Treppenabsatz waren. Gedämpfte Geräusche wie von einem Gespräch im Nebenzimmer lagen in der Luft und wurden deutlicher, als ihr Atem sich beruhigte.
Sie wirbelte herum. Niemand da. Aber Terrible hatte es offenbar auch gehört; sein vorsichtiger Blick glitt über jeden Quadratzentimeter des Absatzes, während sie die Decke absuchte. Seinem Aussehen nach zu urteilen ging es ihm kaum besser als ihr, und sie fragte sich, ob er sie wirklich ganz selbstlos ans Fenster geschleift hatte oder ob es ihm nicht auch als willkommene Entschuldigung gedient hatte, selbst an die frische Luft zu kommen.
Rechts von der Treppe, gegenüber der blutigen Todeszelle, zeichnete sich bedrohlich ein weiterer Eingang ab. Die Fenster waren dort mit Zeitungspapier verklebt, das kaum Licht hindurchließ und gespenstisch im Luftzug flatterte.
Die Stimme war immer noch da. Kein verständliches Wort. Gedämpft. Sie begriff, was es war, machte einen Satz und wurde von seinem unnachgiebigen Arm über der Brust zurückgehalten. Er schüttelte den Kopf. Also hatte er es auch erkannt und wusste, was sich in diesem Raum versteckte. Sie hatten entweder einen Überlebenden gefunden - oder den Mörder.
Sie sah zu, wie er den Kopf vorsichtig ins Zwielicht schob und sich nach beiden Seiten umschaute. Mit einem knappen Winken der Finger bedeutete er ihr, näher zu kommen.
In diesem Zimmer gab es kein Blut. Stattdessen bedeckten Graffiti die Wände. Schemenhafte Umrisse zeichneten sich am Boden ab.
Einer von ihnen bewegte sich.
Chess prallte zurück. Was eigentlich ziemlich blöd war, schließlich konnte sie erkennen, was es war - beziehungsweise, wer es war —, noch während ihre Füße sich ohne ihr Zutun bewegten. Aber ihr ganzer Körper kribbelte von der Spannung, die in der Luft lag, der Anblick des Blutbads in dem anderen Zimmer ging ihr einfach nicht aus dem Kopf, und sie spürte noch immer den Druck von Terribles Hand in ihrem Nacken.
»Okay, ganz ruhig, Kleine.« Terrible hob die Linke an die Schulter und drehte der am Boden kauernden Gestalt die geöffnete Handfläche zu. Zugleich wanderte die Rechte hinter den Rücken; Chess bemerkte, wie sie sich um den Griff seines Messers legte. Nur zur Sicherheit. »Hier tut dir keiner was, ja? Steh doch erst mal auf, dann können wir ...«
Die Gestalt - die Frau - hob den Blick. Chess sah ihr in die Augen und erkannte, was Terrible verborgen bleiben musste: das hinterhältige Funkeln schwarzer Magie. Sie spürte, wie die Aura mit der Wucht eines Güterzuges gegen sie krachte. Ihre Haut wurde heiß, und das Hirn schwoll in ihrem Kopf.
Zwei weitere Gestalten tauchten auf, als aus zwei vermeintliehen Kleiderbündeln am Boden plötzlich Menschen wurden. Zwei Männer, zwei Hexer. Zwei Mörder, die sie dabei gestört hatten, ihren Plan mit all dem Blut und der Energie im Nebenraum in die Tat umzusetzen — wie auch immer dieser Plan aussehen mochte.
Die Frau am Boden riss sich das Klebeband vom Mund und sprang mit einer einzigen, fließenden und übernatürlich schnellen Bewegung auf die Füße. Von ihrer Hand baumelte ein Fetisch; Chess schrie auf, als sie ihn sah.
Terrible hastete zur Wand, wahrscheinlich, vermutete Chess, um zu verhindern, dass ihm jemand in den Rücken fiel. Unterwegs packte er sie am Arm und kugelte ihr beinahe das Gelenk aus bei dem Versuch, sie hinter sich zu zerren.
Das würde sie nicht zulassen. Durfte es nicht. Denn das Ding, das die Frau da in der Hand hatte, konnte ein noch viel schlimmeres Gemetzel anrichten als im Zimmer
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