Geisterstunde
er durch die Öse läuft, und auf der anderen Seite quillt er wieder auf«, erklärte Morpheus.
»Wie bekommen sie denn die Kordel wieder herunter?«
»Gar nicht. Sie benutzen sie nur einmal, danach ist sie verflucht. Ich habe erst einmal eine zu Gesicht bekommen.
Ein Kerl, den ich vor Jahren kannte, hat sie sich selbst vom Hals geschnitten. Mit Ausnahme deiner Person war er der größte Glückspilz, den ich jemals getroffen habe.«
Ich sah mich um. Morpheus konnte den Blick nicht von Schleicher abwenden. Unser Mörder mochte nicht gut sein, aber er hatte Schwein. Es gab kein einziges Fitzelchen Beweismaterial. »Irgendwie traurig«, sagte ich.
»Der Tod ist normalerweise traurig.« Diese Bemerkung überraschte mich, wenn ich bedachte, von wem sie kam. Aber Morpheus steckte immer voller Überraschungen.
»Ich meine, wie er gelebt hat.« Ich deutete auf die Kammer. Schleicher hatte wie seine Pferde gehaust und auf Stroh geschlafen. Sein einziges Möbelstück war ein vollgekleckster Tisch. »Er war Berufssoldat, seit zwanzig Jahren dabei. Den größten Teil davon hat er im Cantard abgeleistet. Er war Einzelkämpfer und hat oft einen Bonus eingestrichen. Ein derart vorsichtiger Mann, der so lange überlebt hat, müßte eigentlich umsichtig mit seinem Geld umgegangen sein. Aber er hat in dieser Scheune gehaust wie ein Vieh. Hatte anscheinend nicht mal Klamotten zum Wechseln.«
Morpheus knurrte. »So was kommt vor. Wetten, daß er aus dem übelsten Slum stammte? Oder einem armen Bauernhof, wo sie nie mehr als ein Kupferstück im Monat hatten?«
»Ich wette nicht.« Das kannte ich. Leute, die aus armen Verhältnissen kamen, entwickelten oft eine schon fast manische Neigung, ihr Geld für harte Zeiten zurückzulegen. Und dann erwischt es sie unmittelbar vor dem großen Zahltag. Trauriges Leben. Ich berührte Schleichers Schulter. Seine Muskeln waren immer noch verkrampft. Er hatte sich im Tod nicht entspannt. Merkwürdig.
Ich rief mir ins Gedächtnis, was Kelle mir über ihn erzählt hatte. »Schreibt’s auf seinen Grabstein: Hier liegt ein guter Marine.« Ich rollte ihn auf den Bauch. Vielleicht lag ja etwas unter ihm. Fehlanzeige. Jedenfalls konnte ich nichts sehen.
»Morpheus. Es braucht doch seine Zeit, jemanden zu strangulieren. Vielleicht hat der Mörder das zuerst versucht und ihn dann erstochen. Und nicht andersherum.«
Morpheus betrachtete die Unordnung, die nicht allzu augenfällig war, und ließ den Zustand der Kammer auf sich wirken. »Könnte sein«, erklärte er dann.
»Hast du jemals versucht, jemanden zu erwürgen?«
Er warf mir einen mißbilligenden Blick zu. Solche Fragen mochte er nicht besonders.
»Tut mir leid. Habe ich tatsächlich. Ich sollte einen Wachposten während eines Ausbruchs erledigen. Bevor wir verhaftet wurden, habe ich ein wenig … geübt.«
»Das klingt ja gar nicht nach dir.«
»Früher war ich so. Ich töte nicht gern, schon damals nicht, aber wenn ich es erledigen mußte und wenn wir heil da rauskommen wollten, war es besser, keine halben Sachen zu machen.«
Er knurrte, als er Schleichers ehemalige Behausung genauer untersuchte.
»Ich habe es einmal genau nach Lehrbuch durchgezogen«, meinte ich. »Der Kerl schlief noch halb, als ich ihn erwischte. Aber ich habe die Sache vermasselt. Er hat mich wie eine Puppe durch die Luft geschleudert und dann windelweich geprügelt. Und die ganze Zeit hab ich mich an diesem blöden Seil festgeklammert. Ich habe nur geschafft, ihn daran zu hindern, Verstärkung zu rufen, bis jemand ihn mit einem Dolch aufgespießt hat. Das war das einzig Gute.«
»Wo ist die Pointe?«
»Wenn du jemandem nicht sofort beim Würgen das Genick brichst, kann er sich wehren. Und wenn er sich freimacht, selbst mit dieser Kef-Sidhe-Kordel um den Hals, sieht er dich. Dann mußt du ihn auf irgendeine andere Art erledigen.«
»Was du sagen willst ist also, daß dieser Schleicher stärker war als die Person, die ihn umlegen wollte. Wie dieser Venageti-Soldat.«
Ich hatte nicht gesagt, daß der Venageti stärker war als ich, aber es stimmte. »Ja.«
»Irgend jemand hier im Haus dürfte reichlich blaue Flecken haben. Falls jemand aus dem Haus es getan hat.«
»Mist! Warum kann ich nicht einmal Glück haben?«
»Was meinst du denn damit?« Morpheus findet, daß ich außergewöhnlich viel Glück habe.
»Warum hat der Mörder nichts zurückgelassen? Einen Fetzen seiner Kleidung? Ein Haarbüschel. Irgendwas.«
»Warum reibst du nicht die Lampe und
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