Geisterzorn: Der Fluch von Lost Haven (German Edition)
Entfernung die wir zurückgelegt haben, zu schätzen, sollte es mir möglich sein, nach der Stelle im Wald zu suchen.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Fuß in die Crying Woods gesetzt zu haben. Daher waren die Lichtung und die Birke darin entweder meiner Einbildung entsprungen oder ich habe sie doch mit meinen eigenen Augen gesehen. Und wenn Letzteres zutreffen sollte, dann existierte auch ein Geist, der früher einmal ein intelligentes, junges Mädchen gewesen war.
Auch wenn in meinem Kopf ständig die mahnenden Worte von Elizabeth Trelawney widerhallten, konnte ich mich der Versuchung nicht entziehen.
Ein Geheimnis zu lösen, und sei es auch ein so unheimliches, war für mich unwiderstehlich. Was konnte es schon schaden? Wenn ich nichts finden würde, wovon ich ausging, dann umso besser. Sollte ich aber fündig werden, dann hatte ich wenigstens Gewissheit, dass ich nicht vollkommen den Verstand verloren hatte, und dass die Geister von Lost Haven – wie viele es auch sein mögen - wirklich existierten.
Mrs. Trelawney hatte mich eingehend gewarnt und ich habe sie auch ernst genommen. Ich wollte mich eigentlich nicht mehr mit diesen Dingen beschäftigen; das hatte ich mir fest vorgenommen.
Aber trotzdem gelang es mir nicht, loszulassen.
Nur diese eine Sache. Nur noch diese eine Sache wollte ich klären und aufhören.
Ich weiß bis heute nicht, welcher Teufel mich geritten hat, den Spuren meines Albtraums zu folgen.
Warum konnte ich es nicht einfach sein lassen? Wie konnte ich nur so unglaublich dumm sein?
Unabhängig davon, was ich im Wald vorgefunden habe, kann ich nur sagen, dass es besser gewesen wäre, ich hätte darauf verzichtet.
Irgendwo ganz tief in mir ahnte ich, dass ich es noch eines Tages bereuen würde.
Und mit dieser Einschätzung sollte ich richtig liegen.
2
Ich kramte in den Umzugskisten im oberen Arbeitszimmer. Seit meinem Einzug hatte ich die meisten davon noch nicht ausgepackt. Ich suchte meinen Laptop. In der vierten Kiste fand ich ihn endlich. Als ich ihn gekauft hatte, war er nagelneu und up-to-date. Heute, vier Jahre später, war er schon ein betagtes Modell mit veralteter Software. Ich besaß zwar im Haus einen Internet-Anschluss und auch das nötige Equpipment. Aber seit ich hier alleine wohnte, hatte ich nicht einmal das Bedürfnis, Neuigkeiten aus dem Internet zu lesen.
Zu meiner Überraschung war ich schnell und seit langem wieder online. Zuerst wollte ich mein E-Mail-Postfach, das unter meinem Pseudonym Jack Rafton lief, öffnen. Das erste Mal seit drei Jahren. Ich ließ es dann aber bleiben. Vermutlich würden da mehrere tausend Mails warten, die ich nicht lesen wollte.
Vieles hatte sich im Netz verändert. Überall war noch mehr schrille Werbung als früher.
Ich suchte nach den Satellitenbildern von Lost Haven. Ich zoomte auf die höchste Stufe, stellte dann aber fest, dass es extrem schwierig werden würde, eine kleine Lichtung mitten in dem matschigen Grün, das den Wald darstellen sollte, zu finden.
Anderes Bildmaterial konnte ich im Netz der unbegrenzten Möglichkeiten nicht finden.
Enttäuscht schaltete ich den Computer wieder aus und dachte nach. Ich meinte mich zu erinnern, dass ich mir im ersten Jahr, als wir das Haus kauften, umfangreiches Kartenmaterial über die Umgebung gekauft hatte. Wanderkarten für Radtouren. Darauf würde ich zwar keine Lichtungen im Wald erkennen, aber ich hätte zumindest einen genauen Maßstab und wäre in der Lage, das Suchgebiet erheblich einzugrenzen. Voraussetzung war natürlich, dass ich auf Basis meines Albtraums die Richtung und die Entfernung halbwegs korrekt abzuschätzen wusste.
In einer Schublade im Schreibtisch des Arbeitszimmers fand ich die Karte.
Penibel zeichnete ich zunächst die Richtung ein, die Melissas Geist und ich im Traum eingeschlagen hatten und zog mit dem Lineal eine gerade Linie ausgehend von der Kreuzung Main Street/Kennington Street. Denn ab diesem Punkt war ich mir ganz sicher, dass wir immer geradeaus geschwebt waren.
Dabei orientierte ich mich am Sumpf, den wir mittig überflogen hatten.
Anschließend schätzte ich Geschwindigkeit und Dauer des Flugs durch den Wald. Letzteres war besonders schwierig. Doch ich glaubte mich zu erinnern, dass wir kurz vor der Lichtung einen schmalen Waldweg überflogen. Somit hatte ich einen Anhaltspunkt, wo ich mit der Suche beginnen könnte. In der Karte waren sämtliche Wege eingezeichnet.
Ich hockte den ganzen Vormittag über der Karte.
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