Geisterzorn: Der Fluch von Lost Haven (German Edition)
vergangenen Ereignisse zu ziehen. Und ich hatte nicht vor, das jetzt zu ändern. Ich würde jetzt einfach zu Tür hinaus gehen und Mr. Beaver seine Enthüllung bei sich belassen.
»Ja, also ich muss jetzt...«, begann ich, doch dann ergriff er meine Hand und umklammerte sie fest.
»Sie wissen es auch, oder?«, fragte er mit weit geöffneten Augen und hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich schüttelte heftig den Kopf und zog leicht den Arm zurück, aber der alte Mann hielt meine Hand nur umso fester.
»Ich weiß es und Sie wissen es«, flüsterte er.
»Wovon reden Sie? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Was geht hier vor sich?«, fragte ich und hätte mich dafür am liebsten geohrfeigt.
»Lesen Sie denn keine Märchen, Mr. Rafton?«
Henry Beaver nahm das dicke Buch, in dem er zuvor gelesen hatte, vom Lesegerät herunter und blätterte darin. An einer Stelle lag eine Spielkarte als Lesezeichen darin. Er schlug die entsprechende Seite auf und drehte das Buch auf dem Tresen um hundertachtzig Grad zu mir.
Ungläubig starrte ich auf die Überschrift der aufgeschlagenen Seite. Mit einem Mal fiel mir ein, woran mich die drei blutigen Worte, die ich im Schlaf an die Wand geschmiert hatte, erinnerten. Und diese wiedergewonnene Erinnerung traf mich unvorbereitet wie ein Faustschlag aus dem Dunkeln.
Das Buch vor mir war eine Sammlung der Märchen von den Gebrüdern Grimm. Die aufgeschlagene Seite war der Beginn eines darin enthaltenen Märchens und trug den Titel 'Gevatter Tod'.
»Ich weiß, was vor sich geht«, wiederholte Mr. Beaver. »Es ist der grimmige Schnitter, der umgeht«, sagte er und deutete auf die Seite im Buch. »Er macht alle gleich, wissen Sie?«
Wie ein Bild, das sich auf ewig in meine Netzhaut eingebrannt hatte, sah ich die Worte vor mir, die ich vor wenigen Tagen selbst in Blut geschrieben hatte.
Alle werden
gleich
Ich starrte mit Tränen in den Augen auf die ersten Zeilen von 'Gevatter Tod'. Es war weniger der Schock über die Bedeutung der Worte, die mein Geschmiere preisgaben, sondern vielmehr die Tatsache, dass mich der nimmermüde Schrecken erneut eingeholt hatte. Ganz gleich, wie sehr ich mich auch dagegen zu wehren versuchte, es entzog sich vollständig meiner Kontrolle. Es war nur der Anfang. Das Schlimmste stand mir noch bevor.
Ich schluckte trocken und bemühte mich, die folgenden Worte so normal auszusprechen, wie es mir möglich war.
Mit der anderen Hand legte ich die Blätter von Melissa zur Seite, nahm den Deckel des Märchen-Buches und klappte es zu. »Tut mir Leid, Mr. Beaver. Ich lese keine Märchen«, sagte ich.
Der alte Mann lockerte seinen Griff, ließ meine Hand dann endgültig los und machte einen resignierten Gesichtsausdruck. Dann holte er ein anderes Buch unter dem Tresen hervor, legte es auf das Lesegerät und schaute wieder auf den Vergrößerungsbildschirm. »Kommen Sie bald wieder, Mr. Rafton.«
Ich schnappte mir Melissas Skript und verließ das Geschäft, wobei ich es mir schwer fiel, es nicht so aussehen zu lassen, als ob ich fliehen würde.
3
Auf direktem Wege ging ich wieder nach Hause. Ich schloss im Wohnzimmer alle Jalousien und blieb im Halbdunkeln sitzen.
Der Vorfall bei Beaver’s Books hatte mich dermaßen geschockt, dass ich für eine Stunde wie betäubt war und keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Erst danach ging es mir ein wenig besser.
Alle werden gleich
Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Als Kind habe ich fast alle Grimms Märchen gelesen. Doch 'Gevatter Tod' hatte ich nicht mehr in meinem aktiven Gedächtnis – bis heute.
Ein Vater von dreizehn Kindern suchte einen Gevatter für sein dreizehntes Kind.
Gott lehnte er ab, weil er ungerecht war.
Den Teufel lehnt er ebenso ab, weil dieser den Menschen falsche Versprechungen macht und sie belügt.
Er entscheidet sich schließlich für den Tod, weil er der Einzige ist, der alle gleich macht. Er ist der Gleichmacher.
Alle werden gleich.
Hätte ich diese Worte nicht an meine Schlafzimmerwand geschmiert, dann hätte ich Mr. Beaver für alt, senil und verbittert abgestempelt. Nicht nur Mrs. Trelawney, auch Henry Beaver schienen ein feines Gespür für die seltsamen Vorgänge in Lost Haven zu besitzen. Nur hatte jeder seine eigene Interpretation.
Bei allem Respekt gegenüber dem alten Mann: Ich glaubte jedoch nicht, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Etwas Übernatürliches war in meinem Haus vorgefallen, ganz ohne Frage, aber es war ganz bestimmt nicht der Schnitter höchst
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