Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
anfühlte So gingen
eines Tages Nicola und Babu in eine Theatervorstellung in der Nähe
von Moskau.
Einlass.
Großmutter dabei und bereits mittendrin. Ohrringe und Ketten
und Ringe und Ketten um den Hals und überall an Babu und um Babu
rund herum. Es war alles Wichtige an Babu dran, was dran zu sein hatte. Babu`s
gesamter Inventar. Eintrittkartenvorzeige.
Hüsteln bei Babu. Wie konnte der Platzanweiser auch nur denken,
für Babu eine Unverschämtheit, für den Platzanweiser
reine Routine. Platzzuweisung, dritte Reihe Nummer
16 bis 18. Begutachtung des Sitznachbars auf Nummer 19. Babu wünschte
sich einen leeren Platz neben sich, auf keinen Fall eine Einengung
ihrer Ellenbogenfreiheit und keine Einengung ihrer körperlichen
und geistigen Freiheit, zumindest nicht heute und nicht bei den saftigen Preisen hier. Aber wie gut,
dass ich meine Großmutter eingeladen
hatte und sie keinen einzigen Rubel unter ihrer Matratze hervor kramen musste. Ein freier
Platz neben Babu. Selbstverständlich,
denn, wo hätte sie den rechten Arm auch hin zu legen gehabt bei
einem Sitznachbarn rechts von ihr. Eine Sache der Unmöglichkeit
und der Einfachheit halber und da ich das wusste und ich Babu nicht
erst seit heute kannte, kaufe ich stets eine Platzkarte zusätzlich.
Wir nahmen die Plätze ein. Babu drehte den Kopf nach rechts und
nach links und ich wusste, dass sie überlegte und dass es sofort
losgehen würde. Es stellte sich die Frage ein, ob die Leute vor und hinter ihr auch genügend Notiz
von Babu´s Ketten um den Hals und überall und ihren
falschen Schmuck mittendrin, genügend
wahrgenommen hatten. Nein, sie hatten nicht. Deswegen
das Ganze noch einmal von vorne. Babu erhob sich von dem roten
samtbezogenen Stuhl, drehte sich äußerst konzentriert nach
allen Seiten hin, mit dem Anschein der Suche nach einem für sie
wichtigen Menschen. Ich saß neben ihr. Aber das war auch jetzt
nicht so wichtig. Das Ganze dauerte
einige Minuten, bis dass die ersten Zuschauer fragend zu Babu blickten. Babu spielte an ihren Ketten
herum und hob sie dem Theaterlicht entgegen, damit ein jeder sie auch erkennen konnte. Darauf hin zupfte sie
noch an ihren Ohrringen herum, und gab
mit ihrer Hand ein Zeichen, dass ein
jeder sich nun wieder hinsetzen und dem baldigen Theaterspektakel
sich widmen dürfe. Ich atmete erleichtert auf. Babu hatte sich
wieder hingesetzt. Es war vollbracht, dass das Eintrittsgeld für´s
Erste gerechtfertigt haben könnte, dachte ich zumindest. Nicht
so für Großmutter. Wir saßen. Ich saß links
von Babu und rechts von ihr der leere
Platz eigens für ihren Ellenbogen und neben ihrem Ellenbogen saß
ein unwichtiger und bedeutungsloser Mensch. Es hätte losgehen
können, im eigentlichen Sinne. Doch Großmutter hatte den Auftritt ihrer Ketten und ihrer Ohrringe
bereits hinter sich und wurde sich einer geteilten Aufmerksamkeit mit
der Theaterbühne bewusst. Sämtliche
Köpfe waren im Theatersaal in
Richtung Bühne gerichtet, da sich in wenigen Minuten der Vorhang
öffnen würde. Aber es fehlte hier etwas Entscheidendes.
Babu vermisste den Applaus und zwar ihren Applaus. Ich wusste das,
denn ich ging nicht zum ersten mal mit Babu an die Öffentlichkeit.
Ich hoffte auf Verdunkelung des Theatersaales. Ich hatte Glück.
Es wurde nicht nur plötzlich finster, sondern es ertönte
auch Musik hinter dem großen, dunkelroten Theatervorhang. Das
war der Moment für Babu, sich zu
erheben. Sie erhob sich, und sie bekam ihren Applaus.
Ich klatschte, der Mensch links von mir klatschte, der bedeutungslose
Mensch rechts von Babu´s Ellenbogen klatschte
ebenso und ein jeder hier im Publikum fing an zu applaudieren. Ich
war zufrieden. So perfekt wie heute, lief ein Theaterbesuch nicht
immer mit Babu ab. Heute hingegen lief alles glatt. Vor allem war
Babu sehr zufrieden, auch mit sich selbst und sie bedankte sich mit
ehrfürchtigen Kopfnicken bei ihrem treuen und unvergesslichen
Publikum, aber nicht, ohne sich vorher von ihrem roten samtbezogenen
Stuhl erhoben zu haben. Ich freute mich sehr für Babu, die sich
in so einem Moment an frühere Zeiten
erinnerte, in denen sie selbst auf der Bühne stand und etwas
Applaus für ihre Präsenz, wenn auch
nur als kleine Statistin, siehe Baum und
ihrem dementsprechendes, hervorstechendes
Talent bekam. Der Vorhang öffnete sich und Großmutter
hatte sich wieder auf ihren Stuhl fallen lassen. Trotz Dunkelheit
in dem Saal konnte ich ein glückseliges Lächeln bei Babu
feststellen und das war Geschenk genug
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