Gekroent
den Selenitbrocken. Das unter ihren Fingern raschelnde Echo Lichtbringerin tröstete sie ein wenig. Sie war total verwirrt. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander aus Hitze und Gedanken und Zweifeln. Ihre Welt war in Millionen winzig kleine Stücke zersprungen.
„Morrigan! Ich habe dich gefragt, ob du das machst.“
Kyles scharfe Stimme drang durch ihren inneren Tumult, und sie schaute zu ihm auf und fragte sich, wieso sein Gesicht so farblos und seine Augen so groß und dunkel waren.
„Ob ich was mache?“, fragte sie schnippisch.
„Das Rumpeln in der Höhle.“
„Wa…“ Morrigan sah genau in dem Moment nach oben, als ein faustgroßer Stein von der Decke fiel.
Sei auf der Hut, Lichtbringerin! Es droht Gefahr. Du musst die Höhle schnell verlassen.
Die Kristalle vermittelten ihr die Gewissheit, dass sie alle sterben würden, wenn sie nicht sofort hier herauskämen.
9. KAPITEL
„Grandpa! Grandma! Raus hier!“, rief Morrigan ihnen über die Schulter zu. Sie wusste, dass sie eigentlich aus der Höhle rennen und ihre Großeltern und Kyle mitnehmen sollte, aber sie konnte ihre Hände nicht vom Selenitbrocken lösen.
„Morrigan, was ist hier los?“, rief Kyle.
Ein weiterer Felsbrocken fiel so dicht neben ihrem Großvater herunter, dass Morrigans Magen sich schmerzlich zusammenzog.
Gefahr, Lichtbringerin , schrien die Kristalle.
„Ihr müsst gehen! Die Decke kommt herunter.“ Das Rumpeln, von dem sie anfangs gedacht hatte, es fände in ihrem Inneren statt, grollte inzwischen durch die Höhle und ließ die Erde erzittern. Weitere Teile der Decke lösten sich und fielen als tödlicher Regen auf die Erde. Morrigan riss ihren Blick von den Kristallen und sagte: „Du musst auch gehen, Kyle. Lauf schnell!“
„Morgie?“ Ihr Großvater klang hin- und hergerissen und machte einen Schritt auf sie zu.
„Geh, Grandpa! Ich komme nach“, log sie.
Sie sah, dass er nickte, Grandmas Arm nahm und ihr half, den Weg zurück zum Eingang zu erklimmen. Dann hielt er inne und drehte sich noch einmal zu ihr um.
„Morrigan, komm schon!“, rief er ihr über das ohrenbetäubende Grollen hinweg zu.
Sie lächelte ihn traurig an und dachte, wie sehr sie sein wettergegerbtes Gesicht liebte, das sie immer an Rooster Cogburn aus dem alten John-Wayne-Film „Der Marshall“ erinnerte. Sie musste nicht in den Selenitbrocken schauen, um zu wissen, dass er sich im Inneren wieder kräuselte und ihr einen Blick in die seltsame, spiegelbildliche Welt der anderen Höhle gewährte. Sie wusste, was sie dort sehen würde – in ihrer Seele hatte sie es von Anfang an gewusst. Sie hatte sogar gewusst, was sie schließlich würde tun müssen. Morrigan drückte gegen den Brocken und spürte, wie ihre Handflächen in ihn eintauchten, als hätte er sich in halbfeste Götterspeise verwandelt.
„Ich liebe dich, Grandpa! Ich liebe dich, Grandma!“, rief sie. „Das hier tut mir so leid. Mir tut alles leid.“
Der Gesichtsausdruck ihres Großvaters wechselte von Sorge zu Verzweiflung.
„Nein, Morrigan!“
Er machte einen Schritt auf sie zu, wurde aber gezwungen, stehen zu bleiben, als ein großes Stück der Decke direkt vor ihm herunterfiel und vor seinen Füßen zerbarst. Eine Wolke aus Staub und Steinen erhob sich und verdeckte ihr die Sicht auf ihn. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie konnte seine Worte hören, auch wenn der ansteigende Lärm in der Höhle sie dämpften.
„Morrigan, sieh zu, dass du hier rauskommst! Du weißt nicht, was du tust. Hinüberzugehen ist nicht so einfach, wie du denkst!“
„Morrigan, wir müssen los. Jetzt!“ Kyle packte ihren Arm und versuchte, sie mit sich zu ziehen.
Sie riss sich von ihm los. „Nein. Du musst gehen, Kyle. Ich bleibe.“
„Das ist verrückt“, schrie er und deutete zur Decke. „Sie kommt runter, das wird dich umbringen. Ich kenne dich nicht, aber ich habe Gefühle für dich, die ich nie zuvor verspürt habe. Und ganz sicher will ich dich nicht verlieren, bevor ich verstehe, was da zwischen uns passiert.“
Ihre Blicke trafen sich. Sie ignorierte, wie schrecklich herzlos sie sich dabei vorkam, und ließ ihre Stimme hart und grausam klingen. „Du hast recht. Du kennst mich nicht. Und jetzt sieh zu, dass du verschwindest und lass mich allein.“ Morrigan löste eine Hand vom Gestein. Beim feuchten Schmatzen, das dabei zu hören war, riss Kyle seine Augen noch weiter auf. „Du würdest nicht glauben, was ich alles tun kann. Ich habe Kräfte, die du nicht
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