Geliebt
– oder sich zusammenrollen und sterben.
Er hielt an und schaltete die Zündung aus. Die beiden blieben erst einmal im Wagen sitzen und sahen sich an. Mindestens zum zehnten Mal überprüfte Sam das Navi, um sicherzugehen, dass die Adresse tatsächlich richtig war. Sie war es.
»Sollen wir aussteigen?«, fragte Samantha schließlich.
Sam wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Was war das für ein Mann, der an einem derartigen Ort lebte? Was für ein Mensch war sein Dad bloß?
Am liebsten hätte er den Motor gestartet und wäre einfach davongebraust. Doch irgendwie konnte er nicht.
Schließlich schluckte er, öffnete die Tür und stieg aus. Samantha folgte seinem Beispiel.
Langsam näherten sie sich dem Trailer. Nachdem sie die verrotteten Holzstufen hinaufgestiegen waren, öffnete Sam die quietschende Fliegengittertür.
Er atmete tief durch, hob die Hand und klopfte an.
Von drinnen kamen raschelnde Geräusche. Sekunden später ging die Tür auf.
Und dann stand er vor ihm, sein Vater.
20.
Kapitel
R oger führte sie zurück auf den Weg, der durch die gepflegten Parkanlagen verlief, vorbei am Daniel Fisher House. Dann kehrten sie auf die Straße zurück, bogen einmal ab und erreichten die große, historische Walfang-Kirche.
Als sie die Eingangsstufen hinaufstiegen, sahen sich Caleb und Caitlin verblüfft an. Genau an dieser Kirche waren sie erst kurz zuvor vorbeigegangen.
Das Portal war verschlossen, doch Roger hatte einen Schlüssel. Nachdem er aufgesperrt hatte, hielt er die Tür auf und ließ sie eintreten.
»Wir haben das Schwert nicht weit weggebracht«, sagte er lächelnd und zwinkerte ihnen zu.
Als sie in der Kirche standen, schloss er das Portal wieder ab.
Caitlin war sprachlos. Die Kirche war atemberaubend, so hell und luftig, so wunderschön in ihrer Schlichtheit – ganz anders als alle anderen Kirchen, die sie bisher betreten hatte. Es gab keine Kreuze, keine Heiligenfiguren, keine Dekoration, nicht einmal Säulen oder Balken: Der Raum wirkte einfach dadurch, dass er so riesig und offen war und an allen Seiten große, alte Fenster besaß. Es gab zahlreiche Reihen schlichter Holzbänke, die Hunderte von Menschen fassen konnten. Der Ort strahlte Ruhe und Frieden aus.
»Das hier ist der größte Raum Amerikas mit einer hohen, offenen Decke«, erklärte Roger. »Keine Säulen, keine Balken. Die Kirche wurde von meisterhaften Schiffsbauern erbaut. Und sie steht heute noch genauso sicher wie damals.«
»So verbringst du also jetzt deine Tage, Roger?«, fragte Caleb lächelnd. »Indem du dich um eine alte Kirche kümmerst?«
Roger erwiderte sein Lächeln. »Das ist auf jeden Fall besser, als dich ständig aus allen möglichen schwierigen Situationen rauszuhauen«, entgegnete er. Dann seufzte er tief und lange. »Ich bin müde, Caleb. Schließlich lebe ich schon viel länger als du, und ich habe es einfach gründlich satt. Dieser Ort gefällt mir. Er ist ruhig. Ich störe niemanden, und niemand stört mich. Ständig diese verdammten Kriege – ich habe genug davon. Clans, Politik … Ich ziehe es vor, allein zu leben. Mir gefällt es hier. Ganz ehrlich, ich hätte nie geglaubt, dass nach all den Jahren noch jemand kommen würde. Inzwischen dachte ich schon, dass es überhaupt keinen Auserwählten gibt. Aber ganz offensichtlich habe ich mich geirrt.« Roger warf Caitlin einen Blick zu. »Und jetzt macht ihr mich arbeitslos.«
Er wandte sich an Caleb. »Bevor ich euch hinbringe, habe ich noch eine Bitte an dich.«
Caitlin fragte sich, was das wohl sein könnte. Wie hoch war der Preis für den Zugang zu solch einem wertvollen Gegenstand, den dieser Mann sein ganzes Leben lang bewacht hatte?
»Was immer du möchtest, mein alter Freund«, erwiderte Caleb.
»Es ist schon so lange her, seit ich dich zuletzt spielen gehört habe«, sagte Roger leise.
Er deutete auf einen großen alten Flügel in einer Ecke der Kirche.
»Spiel die Pathétique, die 8. Klaviersonate von Beethoven. Den zweiten Satz, genau wie damals in Wien.«
»Das ist so lange her, Roger.«
Roger lächelte über das ganze Gesicht. »Ich bin mir ganz sicher, dass du es nicht verlernt hast!«
Schlagartig wurde Caitlin bewusst, dass es noch sehr vieles gab, was sie von Caleb nicht wusste – und was sie wahrscheinlich auch nie erfahren würde. Ihm gegenüber kam sie sich so jung vor. Caleb und Roger hatten im Laufe der Jahrhunderte viel mehr miteinander erlebt, als Caleb und sie je erleben konnten. Dieser Gedanke stimmte sie
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