Geliebte der Finsternis
versetzen. Nur für einen kurzen Moment. Damit sie sah, was sie versäumte.
Nein, dann wäre alles noch schlimmer. Außerdem durften schwangere Frauen nicht durch die Zeitportale reisen.
»Hoffentlich siehst du wie dein Vater aus«, flüsterte
sie. Behutsam streichelte sie ihren Bauch. Dabei malte sie sich ein kleines Kind mit Wulfs dunklem, lockigem Haar aus. Genauso groß wie der Vater würde auch der Sohn sein. Und so kräftig. Doch er musste ohne die Liebe einer Mutter heranwachsen. So wie das Schicksal Wulf zwingen würde, sie sterben zu sehen.
Cassandra unterdrückte ein Schluchzen und griff nach einem neuen Blatt Papier. Den Tränen nahe, schrieb sie ihrem Sohn, wie sehr sie ihn liebte. Obwohl ich körperlich nicht bei dir bin - im Geiste bleibe ich stets in deiner Nähe.
Ja, irgendwie würde sie Mittel und Wege finden, um ihn zu bewachen. Für alle Zeiten.
Sie beendete den Brief, legte ihn in die Kassette und trug sie ins Wohnzimmer, wo die Männer immer noch Karten spielten. Jetzt brauchte sie Gesellschaft. Jedes Mal, wenn sie zu lange allein blieb, wurde sie von qualvollen Gedanken heimgesucht.
Glücklicherweise verstanden es Wulf und Chris sehr gut, sie von der Zukunft abzulenken. Sie entlockten ihr sogar ein Lächeln, wenn ihr nicht danach zumute war. Als Chris sie gerade dazu überreden wollte, am Kartenspiel teilzunehmen, kehrte Phoebe mit einem Buch zurück und legte es in die Kassette, die auf dem Sofa stand.
»Was ist das?«, fragte Cassandra.
»Ein apollitisches Märchenbuch. Erinnerst du dich an die Märchen, die Mom uns in der Kindheit vorlas? Solche Bücher findet man in Donitas Laden. Ich habe eins für das Baby gekauft.«
Misstrauisch ergriff Wulf das Buch und begann darin zu blättern. »He, Chris!«, rief er und gab das Buch seinem Knappen. »Du kannst doch Griechisch?«
»Ja.«
»Was steht da drin?«
Chris begann zu lesen. Nach einer Weile brach er in schrilles Gelächter aus.
Unbehaglich erinnerte sich Cassandra an einige Geschichten, die ihre Mutter vorgelesen hatte.
Chris schüttelte grinsend den Kopf. »Also, ich weiß nicht recht, ob man so was einem Kind geben sollte.«
»Lass mich raten!«, stieß Wulf hervor. Mit schmalen Augen starrte er Phoebe an. »In gruseligen Albträumen wird mein Sohn seinen Daddy sehen, der sich an ihn heranpirscht und ihm den Kopf abreißt.«
»So ähnlich. Die Geschichte ›Der große böse Acheron‹ finde ich besonders interessant.« Chris blätterte ein paar Seiten um. »Oh, Moment mal - das wird euch gefallen, die alte Legende vom grausigen norwegischen Dark Hunter. Kennt ihr die Story von der Hexe und dem Ofen? In diesem Märchen wirst du verbrannt, Wulf.«
»Phoebe!«, fauchte Wulf.
»Was ist denn los?«, fragte Cassandras Schwester unschuldig. »Das ist nun mal unser kulturelles Erbe. Erzählt ihr euch etwa nicht Geschichten über Andy, den bösen Apolliten? Oder Daniel, den Killer-Daimon? Übrigens, ich habe auch die Märchen der Menschen gelesen. Da wird mein Volk nicht besonders nett beschrieben. Die stellen uns als seelenlose, unbarmherzige Mörder dar.«
»Klar«, bestätigte Wulf. »Zufällig seid ihr blutsaugende Dämonen.«
»Haben Sie schon mal einen Banker oder einen Rechtsanwalt kennengelernt?« Verächtlich legte sie den Kopf schief. »Wer ist denn schlimmer? Mein Urian oder diese Typen? Wenigstens brauchen wir die Nahrung, die wir uns nehmen. Die machen ihre Geschäfte aus reiner Profitgier.«
Mit diesem Streit brachten sie Cassandra zum Lachen. Sie nahm Chris das Buch aus den Händen. »Wenn ich dein Geschenk auch zu schätzen weiß, Phe - glaubst du, wir finden ein Buch, in dem die Dark Hunter nicht als abscheuliche Teufel bezeichnet werden?«
»So was gibt’s wahrscheinlich nicht. Oder wenn doch, habe ich’s noch nie gesehen.«
»Großartig«, murmelte Wulf und ergriff noch eine Spielkarte. »Einfach großartig. Mein armer Sohn wird während seiner ganzen Kindheit an Albträumen leiden.«
»Reg dich ab«, sagte Chris und erhöhte seine Wette gegen Wulf. »Da du sein Vater bist, wird dieses Buch das geringste seiner Probleme sein.«
»Wie meinst du das?«, fragte Cassandra.
Chris legte seine Karten beiseite und erwiderte ihren Blick. »Als kleiner Junge wurde ich auf einem Kissen herumgetragen. Bis ich vier Jahre alt war, musste ich einen speziell angefertigten Helm aufsetzen.«
»Weil du jedes Mal, wenn du wütend warst, mit dem Kopf gegen eine Wand gerannt bist«, ergänzte Wulf. »Natürlich hatte ich
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