Geliebte der Nacht
Literaturgoldgrube oder das mittelalterliche Kunstwerk mit Lucan Thorne in der Hauptrolle, das aussah, als stammte es etwa aus dem vierzehnten Jahrhundert.
Beides, entschied sie. Sie zog einen wunderschönen Band französischer Dichtung – vermutlich eine Erstausgabe – aus dem Regal und nahm ihn mit zu einem ledernen alten Lesesessel, der unter dem Wandteppich aufgestellt war. Das Buch legte sie auf einen zierlichen antiken Tisch. Dann konnte sie nicht anders, als minutenlang zu Lucans Abbild hinaufzustarren, das so meisterhaft in die Seidenfäden eingewoben war. Sie streckte die Hand aus, aber sie wagte nicht, das Kunstwerk zu berühren, das Museumsqualität besaß.
Mein Gott, dachte sie ehrfürchtig, als ihr die unglaubliche Realität dieser fremdartigen anderen Welt allmählich bewusst wurde.
Die ganze Zeit hatten diese Leute neben der menschlichen Welt existiert.
Unfassbar.
Und wie klein sich ihre eigene Welt angesichts dieses neuen Wissens anfühlte. Alles, was sie über das Leben zu wissen geglaubt hatte, war in wenigen Stunden durch die lange Geschichte von Lucan und dem Rest seiner Art in den Schatten gestellt worden.
Eine unvermittelte leichte Bewegung der Luft versetzte Gabrielles Körper sofort in Alarmzustand. Sie wirbelte herum und erschrak, da der wirkliche Lucan aus Fleisch und Blut hinter ihr auf der Türschwelle stand, eine breite Schulter gegen den Türpfosten gelehnt. Sein Haar war kürzer als das des Ritters, und in seinen Augen stand inzwischen ein leicht gequälter Ausdruck – sein Blick war nicht mehr so gnadenlos erwartungsvoll, wie ihn die Nadel des Künstlers dargestellt hatte.
Lucan leibhaftig war wesentlich anziehender, fand sie, und er strahlte eine innere Kraft aus, selbst wenn er nur ruhig dastand. Sogar wenn er sie finster anstarrte, so wie jetzt.
Gabrielles Herzschlag beschleunigte sich mit einer Mischung aus Erwartung und Angst, als er sich vom Türrahmen abstieß und den Raum betrat. Sie sah ihn an, sah ihn wirklich an. Sie sah ihn als das, was er war: alterslose Stärke, wilde Schönheit, unergründliche Macht.
Ein düsteres Rätsel, so verführerisch wie gefährlich.
„Was machst du hier?“ In seiner Stimme lag ein leichter Vorwurf.
„Gar nichts“, antwortete sie schnell. „Nein, um ehrlich zu sein, ich bestaune alle diese wunderschönen Sachen hier. Savannah hat mir das Quartier gezeigt.“
Er knurrte, und sein finsterer Blick veränderte sich nicht, als er sich fest in den Nasenrücken kniff.
„Wir haben Tee getrunken und uns ein bisschen unterhalten“, fügte Gabrielle hinzu. „Eva hat uns ebenfalls Gesellschaft geleistet. Sie sind beide sehr nett. Und dieser Ort ist wirklich beeindruckend. Wie lange lebt ihr schon hier, du und die anderen Krieger?“
Sie bemerkte, dass er wenig Interesse an einer Unterhaltung hatte, aber er beantwortete ihre Frage, indem er lässig eine kräftige Schulter hob. „Gideon und ich haben diesen Standort 1898 begründet, und zwar als Hauptquartier für die Jagd auf die Rogues, die in diese Region gezogen waren. Dann haben wir ein Team aus den besten Kriegern rekrutiert, die an unserer Seite kämpfen sollten. Dante und Conlan waren die ersten. Nikolai und Rio kamen später hinzu. Und Tegan.“
Diesen letzten Namen kannte Gabrielle nicht. „Tegan?“, fragte sie. „Savannah hat ihn nicht erwähnt. Und er war auch nicht da, als du mich den anderen vorgestellt hast.“
„Nein, das war er nicht.“
Als er seine Worte nicht näher erklärte, gewann Gabrielles Neugier die Oberhand. „Handelt es sich bei ihm um einen, den ihr verloren habt, wie Conlan?“
„Nein. Nicht auf diese Art.“ Lucans Worte klangen harsch, als er über dieses letzte Mitglied seines Kaders sprach, als wäre dies eine alte Wunde, die er lieber nicht aufreißen wollte.
Er starrte sie noch immer unverwandt an, und noch immer stand er so nah vor ihr, dass sie das Heben und Senken seiner Brust sehen konnte, die Wülste seiner harten Muskeln, die sich unter seinem maßgeschneiderten schwarzen Hemd ausdehnten und zusammenzogen. Sie glaubte sogar die Wärme seines Körpers zu spüren, die in Wellen von ihm ausging.
Hinter ihm starrte sein gewebtes Konterfei mit glühender Zielstrebigkeit vom Wandbildteppich herab. Der junge Ritter trug einen grimmig entschlossenen Ausdruck zur Schau. Er war überzeugt, jede Beute zu erobern, die er aufs Korn nahm. Gabrielle erblickte jetzt eine dunklere Schattierung dieser Entschlossenheit, als der lebendige Lucan sie
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