Geliebte des Feuers
Glastresen.
Miri hielt sich nicht länger dort auf, verzichtete auf ihren Einkauf. Robert sagte nichts mehr und folgte ihr auch nicht, als sie weiterging. Nur einmal blickte sie über die Schulter zu ihm zurück. Doch er schien immer noch in das Angebot der Konditorei vertieft. Was sie nicht beruhigte. Sie traute ihm nicht.
Doch keiner versuchte, mit ihr im Aufzug hochzufahren. Sie ging allein durch den ruhigen Flur ihres Stockwerks, stand allein im Dunkeln vor ihrer Zimmertür; niemand schlich ihr nach, kein Jäger verfolgte ihre Spur.
Trotzdem beschlich sie ein übles, unbestimmtes Gefühl.
Abgesehen von diesen Vorahnungen verstrich der Nachmittag sehr schnell. Miri duschte und bestellte sich dann beim Zimmerservice etwas zu essen. Erledigte einige Telefonate. Sie sollte übermorgen nach Palo Alto zurückkehren, aber das war jetzt eher unwahrscheinlich. Wenigstens war Sommer, und die meisten ihrer Examenskandidaten waren entweder in den Ferien oder kamen mit ihrer langen Abwesenheit gut zurecht. Dass es E-Mails gab, war wirklich ein Gottesgeschenk.
Miri behielt die Uhr im Auge, und als sie wusste, dass es in Kalifornien Morgen war, rief sie ihre Eltern an. Damit erfüllte sie nur ihre töchterliche Pflicht, mehr nicht. Zum Glück waren sie unterwegs. Wahrscheinlich zu einem Power-Walk, ihrem gemeinsamen Versuch, fit zu bleiben, weil jeder - da war wieder dieses allgegenwärtige, mysteriöse »jeder« — sagte, dass man so leben sollte.
Miri hinterließ ihnen eine Nachricht. Eine nüchterne, präzise Nachricht. »Hi. Ich hoffe, bei euch ist alles okay. Ich muss vielleicht noch eine oder zwei Wochen in Taiwan bleiben, möglicherweise auch noch länger. Macht euch keine Sorgen, wenn ich mich nicht melde. Passt auf euch auf. Bye.«
Das war einfach gewesen. Alles andere wäre ihr überflüssig erschienen, und sentimentale Gefühlsduseleien wirkten befremdlich auf sie. Ihre Eltern hielten sich für Intellektuelle und über starke Emotionen erhaben, ganz im Unterschied zu Miris Großmutter, die vor langer Zeit gestorben war. All ihre Leidenschaft, all ihre Träume, die sie dazu veranlasst hatten, sich einer ungewissen Zukunft in einem fremden Land zu stellen, waren jetzt verwelkt und mit ihr gestorben. Das war das Resultat des Erfolges, all dieser finanziellen und intellektuellen Errungenschaften, die schreckliche Opfer gekostet hatten.
Zum Beispiel Miris Erziehung. Dieser Erfolg hatte das Band zwischen ihr und ihren Eltern zerstört, bis sie eher eine Fremde als eine Tochter gewesen war. Sie hatten die Liebe zu einem Konzept reduziert, zu einer modischen Übung, weil das Leben auf dem College für frisch Immigrierte ohnehin schon hart genug war. Sollten sie sich da noch mit einem kleinen Kind belasten? Besser war es, Miri in Philadelphia unterzubringen, bei ihrer Großmutter, und sie später nachkommen zu lassen.
Es hatte eine gewisse Logik, davon konnte Miri ausgehen. Gute Absichten und so was. Nur hatte sie nie wieder mit ihnen zusammengelebt. Immer kam etwas dazwischen: Schule, Arbeit, die Nachbarschaft, in der sie lebten. Sie wollten ihr Berufsleben nicht mit einem Kind belasten, einem störrischen Teenager, da doch alles gerade so gut lief. Selbst der Unfall hatte sie nicht umstimmen können. Nichts, gar nichts hatte das vermocht — bis es zu spät war. Miri war siebzehn, fast erwachsen, und trauerte doppelt, um ihre Großmutter, die gestorben war, und um den anderen, den Jungen ...
Dean.
Sie schloss die Augen. Die Vergangenheit war vergangen, daran konnte man nichts mehr ändern, man konnte sie nur ruhen lassen, begraben und weitermachen. Zwanzig Jahre war das nun her, und es wurde allmählich Zeit, erwachsen zu werden, all diese schlimmen, entzückenden Geister hinter sich zu lassen. Sechsunddreißig Jahre war sie jetzt alt und ging auf die vierzig zu. Sie war nicht mehr sechzehn. Kein Kind mehr mit einem überquellenden Herzen.
Es quillt aber doch noch über, dachte sie. Ni-Ni hat dich niemals verlassen. Ebenso wenig wie Dean.
Ein schwacher Trost oder eher gar kein Trost. Wohin sie auch ging, überall gab es Erinnerungen, als wäre die Welt voll von Fragmenten ihrer Vergangenheit, die sich ständig enthüllten und von einem Decoder direkt in ihr Herz geschickt wurden - in ihr ruhiges, pragmatisches kleines Herz. War der Schmerz über den Tod ihrer Großmutter auch allmählich abgeklungen, so schnitt ihr der Verlust von Dean immer noch tief ins Herz. Er war zu sehr ein Teil von ihr gewesen. Und war
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