Geliebte Gefangene
Der junge Leutnant hatte offensichtlich vor, sich einer möglichen Beförderung als würdig zu erweisen, und war überzeugt davon, das Richtige getan zu haben. Er würde sich ohne Zweifel dazu beglückwünschen, dass er daran gedacht hatte, Simon zu benachrichtigen. Es war sein Pech, dass er genau das getan hatte, was Anne von ihm wollte.
Ihre Schritte hallten durch den Korridor, als sie zur Treppe gingen. Der Wind strich den Gang entlang und ließ die Fackeln in ihren Wandhalterungen aufflackern. Die nächtliche Stille im Haus war nur eine Täuschung. In diesen Tagen kam Grafton nie wirklich zur Ruhe. Es waren immer Männer als Wachen eingeteilt.
Sie erreichten den oberen Treppenabsatz, wo eine weitere Wache sich ihnen in den Weg stellte. Sofort trat der Mann mit klirrenden Waffen zurück, als er Jackson erkannte. Der Captain wollte gerade die ersten Stufen nehmen, als Anne ihm die Hand auf den Arm legte. „Es ist nicht nötig, in den Burghof hinunterzugehen, Captain. Ich werde die Kirchentür in der Langen Galerie benutzen. Ihr könnt hier warten, wenn Ihr wollt.“
Sie wartete seine Zustimmung erst gar nicht ab, sondern ging sofort die Galerie hinunter. Es war sehr dunkel und kalt hier, denn die Fackeln waren nicht entzündet und die Feuer in den Kohlebecken schon zu glühender Asche heruntergebrannt. Die in Öl gemalten Porträts von Annes Vorfahren starrten mit scheinbar vollkommener Gleichgültigkeit von den Wänden auf sie herab. Sie erschauerte und eilte weiter.
Sie wusste, dies war der Moment, der über Erfolg oder Misslingen ihres Plans entschied. Jackson würde sich jetzt an eine wichtige Sache erinnern, die er vorher vergessen hatte – die Kirche hatte zwei Zugänge. Er würde erkennen, dass sie, wenn er sie zum Eingang in der Langen Galerie begleitete und draußen wartete, durch die eine Tür in die Kirche hinein und durch die andere wieder hinausgehen könnte. Und dann würde ihm das andere Problem bewusst werden: Wenn er sie allein in die Kirche gehen ließ und dann zum Haupteingang eilte, könnte sie leicht in die Lange Galerie zurückschlüpfen, während er weg war. Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Captain war nun deutlich zurückgefallen und schien verunsichert, was er tun sollte, denn sie vernahm, wie seine Schritte langsamer wurden. Als sie nach der Türklinke griff, hörte sie ihn im Tonfall plötzlicher Verzweiflung nach ihr rufen, aber sie ignorierte ihn. Schnell schlüpfte sie durch die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Sie war sehr dankbar, dass Simon es nicht für nötig befunden hatte, alle Schlüssel im Haus zu beschlagnahmen. Das war sein erster Fehler gewesen.
Außer … Sie hielt inne. Würde Simon eine Wache in der Kirche platziert haben? Es schien unwahrscheinlich, denn die Kirche war über dem Burggraben in die Burgmauer hineingebaut worden, und von hier aus gab es keinen Fluchtweg. Simon hatte nicht die Möglichkeit, unbegrenzt über Soldaten zu verfügen, und sie bewunderte die Effizienz, mit der er seine Truppen in Grafton einsetzte. Sie wusste, dass er die Kirche als das wahrscheinlichste der möglichen Verstecke für den Schatz des Königs betrachtete und sie vom Dach bis zur Krypta durchsucht hatte. Als seine Männer außer Mäusedreck und alten Kerzen nichts gefunden hatten, hatte er die Suche abgebrochen. Sie verließ sich darauf, dass er glaubte, die Kirche nicht länger bewachen zu müssen.
Anne sprach ein schnelles, aber aufrichtiges Gebet für ihren Vater und für den Erfolg ihres Plans. Dann schlich sie durch das Hauptschiff in die dem Heiligen Hubertus gewidmete Seitenka pelle. Er war der Schutzpatron der Jäger, und sie hoffte, dass er in dieser Nacht auf ihrer Seite stand.
An der Rückwand der Kapelle befand sich eine kleine Tür, die in die Sakristei führte. Der Riegel ließ sich lautlos anheben. Anne hatte Pater Michael gebeten, ihn immer gut geölt zu halten. Leise verschloss sie die Tür wieder hinter sich.
Der Raum, in dem sie sich nun befand, war winzig und enthielt nur einen Schrank für die Messgewänder und einen kleinen Schreibtisch. Aber er hatte ein Fenster, das eine dunkle Ecke des Burghofs nahe der Küche überblickte. Vorsichtig kletterte Anne auf den Tisch, der ein wenig unter ihrem Gewicht knarrte. Ihr Puls raste, und sie spitzte die Ohren nach dem kleinsten Laut. Gespannt griff sie nach dem Fensterriegel und wollte ihn gerade hochschieben, als ein Geräusch zu ihr drang. Sie erstarrte.
Im nächsten Moment hörte sie,
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